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Kritik aus den
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Lust und Qual
der Pubertät
Gefühlschaos:
„All over me“ im Kino

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Kritik der Nürnberger Zeitung A

Es kommt der Augenblick, da räumt Claude gründlich auf. In einer Hauruck-Aktion wandern die Bildchen am Spiegelrahmen und andere Nippessachen, die aus einem Zimmer ein Jugendzimmer machen, gesammelt in den Abfalleimer. Nur das Poster von Patti Smith bleibt übrig.

Die radikale Entfernung solcher Reminiszenzen ist eine Metapher für die erstaunliche Konsequenz, mit der Claude gleichzeitig ihre Gefühle völlig neu sortiert. Sie löst sich von der heimlichen und unerwiderten Liebe zu ihrer besten Freundin Ellen und wendet sich mit bisher ungekannter Offenheit der kecken Musikerin Lucy mit dem karottenroten Haarschopf zu.

Eine Pubertätsgeschichte, verknüpft mit den zusätzlichen Wirren eines coming out, rücken die Schwestern Alex (Regie) und Sylvia Sichel (Drehbuch) in den Mittelpunkt ihres Films „All over me“, der sich in seiner lässigen äußeren Form als typisch amerikanische Independent-Produktion präsentiert. Wie zufällig geraten hier zu Beginn die beiden Freundinnen Claude und Ellen (sehr überzeugend gespielt von Alison Folland und Tara Subkoff) ins Blickfeld der Kamera; die Bildführung ist so erfrischend ungezähmt wie die Atmosphäre authentisch. Das ist im US-Kino jenseits von Hollywood zwar nicht mehr neu, das scheinbar ungefiltert den Alltag atmende Flair, unterlegt mit starker Musik, verfehlt aber dennoch nicht seine dynamische Wirkung.

Abgesehen davon, daß man dem Film eine Spur des absurden Humors gewünscht hätte, durch den sich etwa der rund ein Jahr zurückliegende Erfolg „Wellcome to the Dollhouse“ von Todd Solondz auszeichnete, drängt sich auch der Verdacht auf, daß die Synchronisation hier einigen Schaden angerichtet hat. Mehr noch als andere brauchen solche ganz vom Rhythmus alltäglicher Realität inspirierten Filme den eng daran gebundenen Originalton.

Großreinemachen

Als nicht ganz glücklich erweist sich auch die Idee, die Geschichte auf wenige Tage zu konzentrieren, in denen sich Ereignisse und Entscheidungen geradezu überschlagen: von der Freundschaft, die zerbricht, über den Mord von Ellens brutalem Lover Mark an einem Schwulen und auftauchende Drogenprobleme bis hin zu Claudes neuer Liebe. Das Großreinemachen am Ende erscheint etwas zu reibungslos. Sich von der Kindheit und frühen Jugend zu trennen, bedeutet meist auch, Abschied zu nehmen ohne schon genau zu wissen, in welche Richtung man weitergehen wird.

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Schon schlimm genug, wenn sich die beste Freundin ausgerechnet einen brutalen Großkotz und Drogendealer zum Deflorator und Sexgott erwählt. Aber daß sich die 15jährige Claude (Allison Folland) dann auch noch richtiggehend in dieses – doch schon altbekannte – Früchtchen Ellen verknallen muß und deswegen unfähig ist, ihrer insgeheim geliebten Freundin (Tara Subkoff) wegen Geschmacksverirrung den platinblonden Hohlkopf zu waschen, das ist schon eine ganz ausgefuchste Gefühlsverknotung. Mädchen in diesem Alter neigen zu dergleichen, und ihre Eltern und Erziehungsberechtigten fürchten sich davor.

Die Sichel-Sisters Alex und Sylvia, zwei lesbisch sich outende Filmemacherinnen aus Amerika, haben sich nicht gefürchtet und über diesen ereignisarmen und ziemlich trostlosen Lebensabschnitt ihrer beiden New Yorker Mädchen den sicher bestmöglichen Film geschaffen. „All over me“, so sein Titel, meidet Sentimentalitäten und Anwanzungen an sein Zielpublikum, soweit sich das bei diesem Thema und dem entsprechenden top aktuellen Soundtrack eben bewerkstelligen läßt. Es geht um die prekäre Balance zwischen Kopf, Herz und Lust, um einen Mord, Freundschaft und Homosexualität und um die zähe Langeweile spätpubertären Daseins.

Gemessen an dem Thema und der praktisch nicht existenten Story gelingt es den Sichel-Sisters in düsteren Bildern, doch einiges Interesse für ihre beiden Teenager zu wecken. Immer wieder frappierend bei solchen Low-Budget-Produktionen aus dem US-amerikanischen Independent-Bereich ist die technische Professionalität, gepaart mit der verläßlich hundertprozentigen Humorlosigkeit. Man kriegt in solchen Filmen eine leise Ahnung davon, wie in einer Gesellschaft ohne selbstironische Tradition die sogenannte politische Korrektheit zur Tyrannei der Bräsigkeit gerinnt.

-wu-

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