Zum Lustgewinn
„Diebe der Nacht“: Film über Liebes-Werte von André Téchiné

Kritik aus der

„Zum Glück weinte niemand“, sagt Justin, als er gegen Ende noch einmal von der Beerdigung seines Vaters erzählt. Keiner würde in diesem Moment auch eine derart heftige Regung von den Figuren in André Téchinés neuem Film erwarten. Was in „Diebe der Nacht“ die meisten Menschen miteinander verbindet, ist die Angst vor Gefühlen. Vertrauen ist ein Fremdwort, Nähe wird vermieden, sei sie körperliche oder emotional. „Jeder kümmert sich um seine Dinge“, stellt Alex, der Polizist, fest und versucht, es ebenso zu halten. Daß er Juliette, die Studentin und Gelegenheitsdiebin, nicht liebt, erleichtert ihm die Affäre; die gemeinsame sexuelle Lust kann er sich nur mit gegenseitiger Verachtung erklären. Es bedarf schon eines Kriminalfalls, damit sich die Menschen überhaupt miteinander abgeben.


Er möge doch die Dinge um Himmels willen einfach beim Namen nennen, stöhnte die französische Filmzeitschrift „Première“, als Les Voleurs, wie „Diebe der Nacht“ im Original heißt, vergangenes Jahr in Frankreich startete. Gründlicher kann man die Struktur eines Films, das Anliegen eines Regisseurs wohl nicht mißverstehen. Gerade in der Weigerung, eine Geschichte auf direktem Weg, chronologisch korrekt sozusagen, zu erzählen, liegt die Kunst Téchinés. Es geht ihm nicht darum, allwissend das Chaos des Lebens zu ordnen. Eine Geschichte, so der 54jährige Franzose, mag ein einziges Thema haben, aber sie kennt doch viele Variationen – manchmal ebensoviele wie Personen, die in ihr eine Rolle spielen. Es sind die Standpunkte, die zählen und die Sichtweisen. Vielleicht muß alles erst in Bruchstücke zerlegt werden, damit es sich aus den verschiedenen Blickwinkeln neu formen kann; mitunter zeigt Téchiné die gleiche Szene mehrmals und wechselt jedesmal die Perspektive: ein Vorgehen, das fast unmerklich zu Transparenz führt.

Geduld für Charaktere

Die profane Kriminalgeschichte – Justins Vater, der Bruder von Alex und Kopf einer Autoschieber-Bande, wird bei einem großen Coup, an dem auch Juliette beteiligt war, erschossen – benützt Téchiné nur als Gerüst. Wie beiläufig baut er es auf, während er sein eigentliches Interesse den dabei entstehenden Zwischenräumen zuwendet; die Zeit, die Geduld und die Aufmerksamkeit, die Téchiné seinen Charakteren und ihren Lebensphilosophien widmet, hat Seltensheitswert im heutigen Kino.

Eine Geschichte, vier Figuren, vier Empfindungen: zu Justin (Julien Rivière), dem stillen Kind mit dem dunkel ins Gegenüber dringenden Blick, Juliette (irritierend und intensiv wie immer: Laurence Côte), der suchend zwischen den anderen irrlichternden jungen Frau, und Alex (Daniel Auteuil), verbittert, aber unfähig, seine Verpanzerung zu sprengen, gesellt sich noch Marie (Catherine Deneuve überzeugt hier in einer eher untypischen, „weichen“ Rolle); sie ist die einzige, die ihre bedingungslos Juliette geltenden Gefühle nicht verbirgt, die einzige auch, unter den Erwachsenen, die einmal weint – aus Glück, weil es die Liebe gibt, und vielleicht aus Trauer, weil man sie manchmal nicht finden kann, nicht fassen und nicht festhalten. Dann stiehlt sie sich einfach davon, ein Dieb in der Nacht. Tamara Dotterweich

  Kritik aus den


Catherine Deneuve und Daniel Auteuil. Foto: Concorde

Die Diebe der Nacht sind nicht so einfach zu unterscheiden. Wann ist ein Raubzug kriminell und wann bricht er ins zivile Leben ein, um sich Verstand, Herz und Gefühle zu eigen zu machen? André Téchiné, wie viele seiner französischen Regiekollegen ein wortverliebter Analytiker der Seele und messerscharfer Zeitchronist, zeigt meisterhaft aus der Perspektive aller seiner Protagonisten, wie zerstörerisch sich menschliche Energie entlädt und wie schwer man aus dem Regelkreis der Verhältnisse ausbrechen kann.

Das Schöne an diesem Film ist sein Blickwinkel, der sich von Person zu Person verschiebt und nichts übrig läßt als kühle Lakonie. Erholsam, daß niemand belehrt, keiner recht haben will und am Schluß auch noch das Bedürfnis nährt, es werde zumindest im Kino gut ausgehen. Aber immerhin: Prolog und Epilog schließen sich zusammen, ein trauriges, ernstes Kind wird vielleicht erfahren, daß es Vertrauen gibt. Die Zeitabschnitte dazwischen, von Téchiné für den Zuschauer säuberlich getrennt, berichten von einer wechselhaften Geschichte voller Verlierer und ihrer Wert-Schätzung der Liebe.

Der kleine Justin sieht nur, daß man nachts seinen Vater tot nach Hause bringt. Draußen eine diesige Schneelandschaft, drinnen ein undurchsichtiger Familienclan mit einem scheinbar gutbürgerlichen Opa, der in Wahrheit eine Schieberbande dirigiert. In dieses Milieu kehrt Alex zurück, mürrisch und verschlossen. Für Justin ist das ein Onkel, der abzulehnen ist, denn er gehört zur Gegenpartei. Alex ist Polizist. Später wird der seinen altklugen Neffen fragen, ob er ihn haßt. „Das muß ich wohl“, sagt der Kleine trocken.

Regisseur Téchiné entwirft ein Szenarium verschiedener Wahrheiten und deren Wechselwirkung auf die Betroffenen. Es entwickeln sich kuriose, anrührende oder gefährliche Allianzen, die der Zufall steuert und der eigenen Entscheidung entzogen sind. Alex schläft mit der streunenden Juliette, die beiden schließen ein Zweckbündnis zum Lustgewinn unter dem Motto: Was kriegst du von mir und was gebe ich dir. Juliettes Generation setzt ohnehin auf die schnelle Kohle.

Aber jede Anschauung hat noch eine andere Seite. Die junge Frau verleitet nämlich auch die abgehärteten Naturen zu unbekannten Gefühlsregungen. Da ist zum Beispiel Marie, eine Philosophieprofessorin mit großer, unbedingter Liebe zu Juliette. Sie kommt aus einer anderen Welt und stellt fest, daß sich plötzlich zwei sitzengelassene Rivalen zusammentun, um wenigstens einen Menschen zu retten, nämlich eben diese Juliette. Dies zu erklären, ist komplizierter, als es der Regisseur auf seinen unterschiedlichen Erzählebenen vorführt.

Ein Kind, ein Verbrecher, ein Polizist, eine Akademikerin und eine diebische Elster teilen Vergangenheit und Gegenwart und haben keine oder eine vage Zukunft. Catherine Deneuve und Daniel Ateuil sind ein spannendes, zutiefst verstörendes Paar, das seine letzten Träume träumt. Vor allem für die Deneuve ein neuer Karrieresprung in einem für ihren Typ heiklen Alter. Daß so ein subtiler Film ins Nürnberger „Casablanca“ abgeschoben wird, ist eine Fehlleistung der Disposition. INGE RAUH

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