Ein Skelett im Wüstensand erzählt eine böse Geschichte

Kritik aus der

Irgendwann kommt alles ans Licht, und man muß, so die Moral der Geschichte, auch damit umgehen können. Ein Skelett wird gefunden. Alte, ausgebleichte Knochen zwischen den Kakteen im heißen Wüstensand. Und läge nicht, von Wind und Wetter freigelegt, ein verrosteter Sheriffstern daneben, würde sich niemand dafür interessieren. Doch so ruft die Pflicht der Gesetzeshüter. Sam Deeds (Chris Cooper), jetziger Sheriff von Frontera, einem kleinen Grenzort zwischen Texas udn Mexiko, wird sich, mit der Gelassenheit des tiefen Südens, um den Fall kümmern – und mehr erfahren, als ihm lieb ist.

John Sayles beginnt, wie einst Alfred Hitchcock, mit einem sogenannten McGuffin: einem erzählerischen Aufhänger, der sich im Lauf der Handlung als völlig nebensächlich herausstellen wird. Aber wo es dem Altmeister der Spannung um einen eleganten Einstieg ins eher oberflächliche System des Thrillers ging, entwickelt der amerikanische Regisseur in seinem neuen Film „Lone Star“ daraus eine komplexe Gesellschaftsstudie, in der das Schicksal des Einzelnen und historische Zusammenhänge gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Die Gegenwart wird nur aus der Vergangenheit heraus begreifbar. Bei dem Skelett, so stellt sich heraus, muß es sich wohl um die Überreste des einstigen Sheriffs Charley Wade (Kris Kristofferson) handeln: jenen sadistischen Ordnungshüter, der sich seine Schmiergelder zwischen Tortillas servieren ließ und illegal eingewanderte Mexikaner als Freiwild betrachtete. In Frontera erinnert man sich leiber an Sams Vater Buddy Deeds (Matthew McConaughey). Nach einem Streit zwischen den beiden war der korrupte Wade plötzlich wie vom Erdboden verschwunden und der allseits beliebte Buddy wurde zum Nachfolger. Kann es sein, so muß sich der Sohn nun fragen, daß der Vater – dem man inzwischen Gedenktafeln errichtet – ein Mörder war?

Verlorene Familien

Ähnlich wie in Robert Lepages kanadischer Familienrekonstruktion „Confessional“ handelt auch „Lone Star“ von einer Verschränkung der Zeiten, die in schnittlosen Rückblenden beschworen wird. Mit einem Schwenk übe die Schulter verläßt die Kamera die Gegenwart und läßt das Einstige einfließen. Was John Sayles dabei auszeichnet, ist sein Blick auch auf die soziale Vernetzung, sein Versuch, Gesellschaft und Geschichte als großes Gefüge darzustellen. Wie im realistischen Roman droht sich der Autor mitunter zu verlieren in all den Figuren und Facetten, die er einbringen will: den schwarzen, weißen, spanischen und indianischen Historien, den alten und neuen Konflikten, den vielen verlorenen Familien.

Man braucht ein bißchen Geduld für „Lone Star“ und ein Kino, das sich die einfachen Lösungen Hollywoods versagt. Dann wird man belohnt von einem Film, der bittersüß mit Liebe (und einer bösen Pointe) endet. Sam hat Pilar (Elizabeth Pena) wiedergetroffen, seine Freundin aus der Jugendzeit. Damals durfte er sie nicht lieben, der Vater hat es verboten. Jetzt weiß Sam, warum. Und wird es dennoch wagen. In einem verfallenen Autokino sitzen Sam und Pilar und halten sich an der Hand. Hier gibt es keine Illusionen mehr. Vielleicht gelingt es einer Liebe, die stärker ist als alle Tabus, die Vergangenheit endlich zu begraben. Knochen zu Knochen, Stern zu Stern. LUPUS

  Kritik aus den

Ungerechtigkeiten überall. Oder wie sonst ist es zu erklären, daß ein klug konstruierter, punktgenau inszenierter Film wie „Lone Star“ nicht für den „Oscar“ nominiert wurde? Inhaltliche Finessen und formale Brillanz scheinen im Zeitalter digitaler Gimmicks wenig gefragt zu sein.

In seinem bisher besten Streifen verweigert sich Independent-Regisseur John Sayles („City of Hope“, „Passion Fish“) in gewohnt radikaler Weise den Anforderungen der Unterhaltungsmaschinerie der großen Studios. Der komplexe Plot verwebt eine Vielzahl von Handlungssträngen zu einer am Ende stimmigen Geschichte. Diese erweist sich nicht nur als eine intelligente Reflexion über die Dialektik von Legende und Wahrheit, von Mythos und Realität, sondern nimmt sich auch Zeit für die Beobachtung der Spannungen im Zusammenleben verschiedener Rassen.

Mit einer simplen, aber effektiven Rückblendentechnik (ein Schwenk genügt, um die Vergangenheit als immer präsenten Teil der Gegenwart erscheinen zu lassen) taucht der Film gemächlich ein in vier Jahrzehnte texanischen Grenzstadtlebens. Ein posthumer Generationskonflikt nimmt an Schärfe zu, als Sheriff Deeds (Chris Cooper) zum Fundort einer skelettierten Leiche gerufen wird.

Deeds, der dadurch auch persönlich in den Fall verstrickt ist, wird schnell klar, daß sein bei der Bevölkerung überaus beliebter Vater in Verbindung mit dem Mordfall steht. Bei dem Toten handelt es sich um einen korrupten Gesetzeshüter (brutaler Rassist: Kris Kristofferson), der in den 50er Jahren spurlos verschwand. Und genau der war der Intimfeind seines alten Herrn.

Außer Deeds will von der weißen Bevölkerung niemand wissen, was damals wirklich geschah, und die Mexikaner sind augenscheinlich interessierter daran, daß den Schulkindern eine weniger US-patriotische Sicht der texanischen Historie eingetrichtert wird. In Frontera, wo die Zapfhähne die Form von Revolvergriffen haben, sind die Grenzen schon vor langer zeit gezogen worden: Ein Heldenbild muß bewahrt werden, Geschichte gute amerikanische Pointen haben, das Gespenst der Vergangenheit im Schrank bleiben.

Sayles, der auch das Drehbuch schrieb, zeigt sowohl den Versuch als auch die Unmöglichkeit, jahrhundertealte Barrieren im Alleingang zu überwinden. Er tut dies entspannt, unaufgeregt, ohne wackelnden Zeigefinger. In einer Art Schwebezustand verläßt man das Kino mit dem angenehmen (und seltenen) Gefühl, soeben ein Stück Wirklichkeit gesehen zu haben. MIME


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