Freispruch für die Pragmatiker
Altmeister Sidney Lumet und sein Justiz-Thriller „Nacht über Manhattan“

Kritik aus der

Der Fall ist sonnenklar: Ein Drogenboß widersetzt sich der Verhaftung und schießt vier Polizisten nieder. Was dem jungen Staatsanwalt Sean Casey (Andy Garcia) zuerst als persönliches Unglück widerfährt (sein Vater wird beim Einsatz schwer verletzt), wandelt sich zum Sprungbrett seiner Karriere: Casey gewinnt den Prozeß, den Sessel des Bezirksstaatsanwaltes und obendrein die Frau fürs Leben (Lena Olin). Ende gut, alles gut.

Von wegen. Wenn Casey auf den oberen Sprossen seiner Karriereleiter Platz nimmt, ist die „Nacht über Manhattan“ gerade erst eine knappe Stunde alt. Im Zuge der weiteren Ermittlungen rührt Casey an eine gigantische Korruptionsaffäre in Polizeikreisen, die bis in höchste und privateste Bereiche führt.

„Nacht über Manhattan“ beginnt mit furioser Action, um dann mit leidlich spannenden Wortgefechten vor Gericht zu unterhalten. Erst wenn alles gelaufen scheint, spielt Sidney Lumet genüßlich einen Trumpf nach dem anderen aus, den Drehbuch und Darstellerriege hergeben. Vordergründige Spannung ist Lumets Sache nicht. Ihn interessieren die leise knisternden Risse hinter der scheinbar intakten Fassade, die kriminellen Mittel, die den hehren Zweck heiligen. Kann man das Recht beugen, um der Gerechtigkeit zum Triumph zu verhelfen? Ist die penible Befolgung der Gesetze ein Menschenleben wert? Wie beruhigt man den Gewissenskonflikt zwischen Gerechtigkeit, Familienloyalität und Selbstachtung? Das sind Fragen, die nicht nur innerhalb der juristischen Sphäre für schlaflose Nächte sorgen. Lumet inszeniert das Gewissensdrama mit der unauffälligen Routine und dem unbestechlichen Ernst dessen, der vierzig (!) Filme vorzuweisen hat.

In Sidney Lumets Universum hat der Idealist keine Chance, nur der Pragmatiker überlebt. Der Betrachter bekommt den Eindruck, daß hinter Lumets geduldig betriebener, eher unspektakulären Karriere die Strategie der Kompromisse steckt, die trotz ihrer gewundenen Pfade nie von ihrem Anspruch abläßt. Eben das sichert „Nacht über Manhattan“ seine Glaubwürdigkeit und scheidet ihn von den Grisham-Schmonzetten durch eine abgrundtiefe Kluft.

  Kritik aus den

Seit dem Freispruch für O.J. Simpson brachen in den USA neue Debatten aus über die Neutralität der Gerichte, die dem Verfassungsgrundsatz der Gleichheit verpflichtet sind. Schwarz oder Weiß darf nicht die Frage sein, ist es in der Praxis aber doch. Mittlerweile werden zwischen New York und Washington spitzfindige Bücher rezensiert, die einen juristischen Bonus für benachteiligte Gesellschaftsgruppen reklamieren. Das Ausmaß dieser öffentlichen Auseinandersetzung ist hier schwer nachzuvollziehen, aber Amerika hat schließlich sein Kino, um die Sachverhalte zu vereinfachen.

Sidney Lumet, ein aufrechter Streiter für eine unabhängige Justiz, konnte mit seinen Thrillern ans Gewissen rühren und dem Publikum Entscheidungshilfe geben. Er war und ist dabei immer der Künstler, dem der Unterhaltungswert genau soviel gilt wie der ethisch-moralische Anspruch. Das macht seinen Erfolg seit vierzig Jahren aus. In „Nacht über Manhattan“ erweitert der 72jährige sein Thema um ein paar zeitgenössische Varianten, dann läßt er den schönen Andy Garcia in der Rolle des New Yorker Generalstaatsanwalts edel vortreten zur Verkündung des humanen Standpunkts.

Da hat der Junge von den Älteren lernen müssen, daß Idealismus nichts nützt und Pragmatismus in der Grauzone erzwungener Kompromisse wächst. Es ist dabei erlaubt, daß Männer weinen und Frauen sich ihren Lover für die Nacht frei aussuchen. Dazwischen die klassische Geschichte vom Gesetz und seiner zweifelhaften Anwendung. Garcia spielt den Aufsteiger Sean Casey aus kleinen Verhältnissen mit enger Beziehung zum Vater. Casey sr. (Ian Holm), beim Einsatz gegen einen Drogenkönig schwer verletzt, repräsentiert den ehrenwerten Cop.

Doch vielleicht nicht ganz so, wie der Sohn das denkt. Lumet spult einen langen Teil seiner Story nur routiniert ab, Polizistenmord, Anklage, Verhöre, Urteile. Richard Dreyfuss als graugelockter Verteidiger vom alten 68er Schlag kommt auch nicht so recht in Fahrt, und der melancholische Garcia garantiert ein durchgehend eindimensionales Bild vom besseren Wollen in der Justiz. Worauf Lumet jedoch hinaus will, daß nämlich auch Selbstgerechtigkeit tödlich sein kann und die Reaktion auf Konflikte das Privateste trifft, macht er in zwei eindrucksvollen Sequenzen klar.

Die beiden Caseys und Kollegenfreund Johnny haben ihren eigenen Enthüllungsabend. Einer hat sich wie viele vom Revier durch Drogenkuriere schmieren lassen, der andere einen Haftbefehl gefälscht. Welche Moral gilt jetzt? Der alte Casey hält ein typisches Lumet-Plädoyer über die Verteilung des Reichtums und den Einsatz aller Mittel zum Zweck. Und sein Sohn mag sich vor Wut und Entsetzen gar nicht mehr anfassen lassen. In solchen Momenten entsteht das klassische Schauspieler-Kino mit winzigen, genauen Gesten.

Noch einmal gelingt Lumet dieses Format im Dialog von Dreyfuss mit Garcia in der Sauna. Der Verteidiger eines berüchtigten Drogendealers und der um zwanzig Jahre jüngere Staatsanwalt schauen sich nur von der Seite an, während sie über ein System reden, das die vorderste Rauschgift-Front bekämpft und in Wahrheit auch vom Umsatz profitiert. Freispruch für den Pragmatiker. Der einzelne wird wenig ausrichten – doch Altmeister Lumet ist kein Zyniker. In der Schlußeinstellung hält sein Protagonist die sehr amerikanische Predigt vom Leistungswillen und der Durchsetzungskraft.

Klingt gut und ist leider nur zwanzig Minuten lang interessant. Inge Rauh

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