Meisterwerk der Gesten und
Gesichter "Nichts kann ihn von ihr fernhalten." So einfach steht es bei Michael Ondaatje. Er beschreibt die Kapitulation des gepanzerten Ich vor einem überwältigenden Gefühl. Anthony Minghella hat daraus eine Wahnsinns-Szene gemacht. In Kairo betritt eine blonde Frau ein lichtdurchflutetes Zimmer, bleibt vor einem Mann stehen, der plötzlich auf die Knie fällt und ihr Kleid umklammert. Einen Moment lang gleichen die beiden einer Skulptur, dann schlägt sie plötzlich auf ihn ein. Mit solcher Macht hat schon lange keiner mehr das Rätsel gegenseitiger Anziehung in einem Kinobild ausgedrückt. Minghella berührt damit vermutlich die tieferen Sehnsuchtsschichten eines medial aufgeklärten Publikums, das so leicht nichts an sich heranläßt. Seine Aneignung eines traumhaft abenteuerlichen Romans für den Film sprengt die Regeln einer linear erzählten Geschichte total. Der britische Regisseur nimmt ein Buch auseinander und setzt es neu zusammen, bis die Gesten und die Gesichter, die Gerüche und der Geist einer Epoche wieder im Einklang sind. Seit "Der englische Patient" in den USA Furore machte und für zwölf Oscars nominiert wurde, steht das Wort vom Meisterwerk überall. Es stimmt. Aufwühlend bewegt sich ein kleiner Kreis von Menschen in der Vergangenheit und kämpft gleichzeitig mit einer fatalen Gegenwart. Auf zwei Ebenen filtert sich die Welt: Italien, die Toskana nach der Invasion der Alliierten 1944, und Nordafrika vor Kriegsausbruch. Die vier, die in einem zerbombten Kloster aufeinandertreffen, haben auf geheimnisvolle Weise miteinander zu tun. Hana, die kanadische Krankenschwester, pflegt den englischen Patienten, der verbrannt vom Himmel fiel und von den Beduinen aufgelesen wurde. Dazu kommen Caravaggio, Dieb und Spion, sowie Kip, ein Sikh aus der englischen Armee, Minenaufspürer par excellence. Es ist aber besser, im Bildersog des Anthony Minghella aufzugehen, als den Inhaltsanleitungen einer Literaturverfilmung zu folgen. Hier entstand etwas außerordentlich Suggestives, Erinnerungen verschmelzen mit dem Augenblick und halten sich fest an den Glücksmomenten und am Entsetzen. Am Anfang schwebt ein Flugzeug über der Wüste, die Sanddünen sehen aus wie das Meer, plötzlich hüllt sich alles in Feuer und nur noch in Fetzen der Wahrnehmung vollzieht sich eine Katastrophe. In ihrem Mittelpunkt befinden sich Katherine Clifton und Graf Ladislaus de Almasy. Er gehört zu einem kosmopolitischen Club der "Sandmänner", ist Forscher und Kartograph, die Vermessungen der Seele wird er erst erfahren. Minghella wehrt die Annäherung der beiden in großer Spannung ab und blendet sich aus, wenn der Ungar dieser beherrschten Britin zum erstenmal übers Gesicht streicht. Trivial ist daran nichts, offensiv wagt einer, der Liebe ihren Ursprung zu geben. Kristin Scott Thomas und Ralph Fiennes (Miramax-Foto oben) spielen ein schwieriges Paar, gefangen in unterschiedlichen Biographien, aber untrennbar in einer nicht zu definierenden Passion. Szenen aus einem Kairo, das es nicht mehr gibt, zeigen verschwundene Eleganz und Ballroom-Reiz für die Upperclass. Darin spiegelt sich - auch im Gespür für den mosaikartigen Roman von Michael Ondaatje - etwas immens Politisches. Während der Zweite Weltkrieg jeden Wert vernichtet, bahnt sich das Private gegen allen Irrwitz einen Weg und will nichts wissen von Nationalität und Ideologie. Auf der zweiten Ebene, in der Toskana-Geschichte, verhält es sich genauso. Die zwanzigjährige Krankenschwester Hana (Juliette Binoche, Foto Mitte, in bildschöner Natürlichkeit), die jede Art der Kriegsbeschädigung erfahren hat, gibt nichts auf von ihrer Zuwendung. Mit Caravaggio (Foto: Willem Dafoe) und dem englischen Patienten erlebt sie die Befreiung von den Deutschen, Minen gehen hoch, bringen Menschen um, die man mochte. Doch dann gibt es Kip, den jungen Inder, der die Bomben entschärft und mit ihr ein ganz selbstverständliches Verhältnis entwickelt. Und da muß man die hinreißendste Szene dieses Films festhalten. Mit Seil und Taschenlampe schwingen sich Hana und Kip zur Kuppel der italienischen Kapelle hinauf und betrachten mit ausgelassener Freude die Heiligen-Fresken in ihren leuchtenden Farben. Losgelassen von Zeit und Raum entdecken Zufallsfreunde aus gegensätzlichen Kontinenten inmitten der Barbarei die menschliche Zivilisation. Der Engländer Anthony Minghella, 42 Jahre alt, ist Dramatiker und Hörspielautor. Er hat erst zwei Spielfilme gemacht und mit Unterstützung von Michael Ondaatje die Ikonographie des Kinos gegen ein kunstvolles Buch neu behauptet. Das ist fast ein Wunder und hat mit Einsatz zu tun: Seit Erscheinen des Romans 1992 waren Minghella, Ondaatje und der Produzent Saul Zaentz zusammen. Es gab einen Satz aus dem Buch, der von Almasy stammt. "Das Herz ist ein Organ aus Feuer." Diesen Satz sollte der Film weitergeben. Es gelang. INGE RAUH |
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