Wahre Lügen
„Der Polygraph“, Kinofilm des Theaterregisseurs Robert Lepage

Kritik aus der

Wo fängt man an, wo hört man auf bei diesem Film? Er funktioniert, wenn man denn will, wie eine jener russischen Holzpuppen, die sich in der Mitte öffnen lassen und jedesmal ein weiteres, kleineres Mütterchen preisgeben, eins nach dem anderen, so daß man sich freuen kann oder wahnsinnig werden oder sie in Reih und Glied stellen wie eine große Familie, die stufenweise schrumpft. So muß man, heißt es im Film, auch den Begriff der Wahrheit sehen und die Geheimnisse der menschlichen Seele: wo es immer noch tiefer gehe, weil jede Frage, sobald sie gelöst scheint, nur eine neue Frage aufwirft. Was bleibt von Robert Lepages „Der Polygraph“ übrig, wenn alle Puppen schließlich ausgepackt, alle Geheimnisse ergründet sind?

Gleich in der ersten Szene sieht man, wie François (Patrick Goyette) von der Polizei verhört und, zur endgültigen Wahrheitsfindung, an den Polygraphen, eine Art Lügendetektor, angeschlossen wird. Der Student steht unter dem Verdacht, seine Freundin Marie-Claire ermordert zu haben. Um seine Unschuld zu beteuern, fehlt ihm bereits die Kraft. Er ist, wie sich später herausstellen wird, innerlich schon so verunsichert, daß er selbst nicht mehr weiß, ob er das Verbrechen begangen hat oder nicht. Auch er erhofft sich nun Klarheit. Doch die Maschine, bei einfachen mathematischen Problemen erfolgreich, versagt. Sie kann, wo es um Menschen geht, keine eindeutigen Aussagen liefern.

Das will auch Robert Lepage nicht, und mit gutem Grund: sobald er es tut, verliert sein Film jeden Reiz. Wie bereits bei seinem Erstlingswerk „The Confessional“ liegt auch hier die Kunst im spielerischen Hinhalten des Zuschauers – der nur zögerlich und hauptsächlich mit Andeutungen über die Zusammenhänge informiert wird. So lebt der Film durch die kleinen Überraschungen, die er produziert. Lucie (Marie Brassard), die Nachbarin von François, übernimmt, ohne es zu wissen, ausgerechnet die Rolle seiner Freundin: in dem Film, der über den Mordfall gedreht wird. Ihr Liebhaber, der Pathologe Christof (Peter Stormare), ist einst auf obskure Weise aus der DDR nach Kanada gekommen – und zwar mit seinem Freund Hans (James Hyndman), der jetzt die polizeilichen Ermittlungen über François leitet . . .

Nicht die Entwicklung der einzelnen Schicksale steht bei Lepage im Mittelpunkt, sondern das Netz, das sie bilden – und das viel engmaschiger ist, als es auf den ersten Blick scheint. Als psychoanalytisches Puzzle setzt sich die Vergangenheit neu zusammen. Dunkle Punkte, alte Zweifel, verratene Liebe. Das alles vor dem symbolträchtigen Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung, die dem Film das wohlfeile Schlußmotto beschert: Vertrauen! „Der Polygraph“ besticht als kaltglänzende Konstruktion, elegant verzahnt und selbstbewußt ausgestaltet. Das Herz, das er, gleichsam als letzte Puppe, zeigen will, nimmt man dem Film nicht ab. lupus

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Es gibt keine Maschine, die Gefühle aufzeichnen kann. Höchstens Körperregungen wie schnelleres Atmen oder Schwitzen der Hände. Doch das sind meistens Dinge, die man lieber geheimhalten möchte. Die ganze Wahrheit bringen sie doch nicht an den Tag.

François soll einer Maschine sein Inneres offenbaren. Er hat der Polizei schon hundertmal erzählt, daß er nicht der Mörder seiner Freundin Marie-Claire ist. Trotzdem werden ihm Elektroden und Kabel angelegt, der Polygraph oder Lügendetektor soll beweisen, daß er unschuldig ist.

Robert Lepage, der gefeierte kanadische Theaterregisseur, gibt sich in seinem zweiten Kinofilm nicht mit einer spannenden Detektivstory zufrieden. „Der Polygraph“ ist eine verzwickte Geschichte, in der man allmählich hinter die vielschichtigen Masken der Menschen schaut und sich im nächsten Augenblick wünscht, nie das Dahinterliegende gesehen zu haben. Blindes Vertrauen steht hier gegen exakte Gewißheit, die technische Raffinesse eines Lügendetektors gegen die Umarmung einer Freundin, die einfach an François' Unschuld glaubt.

Die Geschichte ist so kompliziert, daß sie kaum erfunden sein kann. Robert Lepage hat in seinem 1988 geschriebenen Theaterstück, das als Vorlage für den Film diente, ein eigenes Trauma verarbeitet. Er selbst wurde als Mörder einer befreundeten Schauspielerin verdächtigt, Verhören und Tests mit dem Lügendetektor unterzogen. Sein alter ego François (Patrick Goyette) macht bei dem Test bereitwillig mit, weil er selbst einen Beweis seiner Unschuld will. Denn nach den vielen Verdächtigungen weiß er selbst nicht mehr, ob er ein Mörder ist oder nicht.

Noch dazu wird er täglich mit der schockierenden Tat konfrontiert, weil seine Nachbarin Lucie (Marie Brassard) augerechnet in einem Film über den Mord die Rolle des Opfers übernimmt, ohne zu wissen, daß François in den Fall verwickelt ist. Ein unsicheres Alibi gibt ihm nur seine Ex-Freundin Claude, die immer noch verzweifelt an ihm hängt.

Mit der Wahrheit und vielen Geheimnissen kämpft auch Lucies Geliebter Christof, ein Pathologe aus der DDR, der im kanadischen Exil den Mauerfall im Radio mitbekommt. Als Symbol seiner verschiedenen Leben trägt er eine russische Puppe mit sich herum, in jeder steckt noch eine kleinere, und eigentlich gehören sie alle zusammen. Absurderweise referiert der Historiker François einige Zeit später in wissenschaftlichen Floskeln über das Ende der DDR und das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen – Christofs Geschichte, aber doch eine ganz andere.

Lepage nutzt in diesem Verwirrspiel die Möglichkeiten des Kinos meisterhaft. Er jongliert mit den technischen Tricks, die Kamera wird oft zum allwissenden Auge, das von oben auf die wie Ameisen im Zeitraffer wieselnden Menschen blickt. Wie ein Henker schaut sie auf den enblößten Nacken des Verdächtigen, beobachtet ihn bei der Arbeit als Kellner oder beim Studium. Stimmen kommen verzerrt aus dem Radiolautsprecher, die Technik bestimmt, was wahr ist. Kein Zufall, daß Antonionis „Blow up“ beiläufig erwähnt wird – ein großes Vorbild läßt grüßen. Lepage steht ihm kaum nach. KATHARINA ERLENWEIN

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