Der bittersüße Film des Belgiers Alain Berliner: „Mein Leben in Rosarot“
Tun, was man will

Manche Kinder stecken die Katze in die Waschmaschine: das ist schlimm. Was der siebenjährige Ludovic macht, daran läßt der Gesichtsausdruck seiner Eltern und Geschwister kaum einen Zweifel, ist schlimmer. Vor allem seit es zwischen Lampions und Rostgrill auf einer dieser zwanghaft fröhlichen Nachbarschafts-Partys alle gesehen haben: da erschien Ludovic im hübschen Chiffonkleid, mit Ohrringen und Schleife im Haar. Selten sah man ein glücklicheres Kind. Selten auch irritiertere Nachbarn.

„Mein Leben in Rosarot“, das Spielfilmdebüt von Alain Berliner, erzählt von einem Jungen, der lieber ein Mädchen wäre. Ludovic ist zarter und kleiner als seine Spielkameraden, er trägt die Haare halblang und träumt sich in die bonbonfarbene Welt einer süß verkitschten Fernseh-Serie. Mit fehlender Eindeutigkeit – zumal bei geschlechtlicher Identität – tut sich die Umwelt schwer. „Mein Leben in Rosarot“ hätte deshalb ein aufrüttelnder Appell für mehr Toleranz werden können. Oder eine kunstvolle Elegie auf Anderssein und Ausgrenzung, ein Drama, eine frühkindliche Tragödie. Fraglos auch ein greller Klamauk mit schrillen Travestie-Einlagen. Berliners Film hat von all dem etwas und von nichts davon zuviel. Der Regisseur hat alle Übertreibungen vermieden und sich ganz auf die Zwischentöne konzentriert. „Mein Leben in Rosarot“ ist mitten aus den Banalitäten und den Besonderheiten des Alltags gegriffen – ein kleiner Film ohne Attitüde, witzig und einfühlsam, angenehm unspektakulär.

Für alle seine Figuren zeigt Berliner Verständnis. Für die ängstlich in spießigen Konventionen gefangenen Nach barn ebenso wie für die Eltern, die von der Eigenart Ludovics bei aller Liebe mitunter überfordert sind. Die eigentliche Zuneigung des Regisseurs aber gilt zu Recht dem Kind selbst, und der zarte und zugleich selbstgewisse Charme des Hauptdarstellers Georges du Fresne könnte den Film mühelos alleine tragen. In jeder Szene vermittelt er die bezwingende Natürlichkeit eines Kindes, das die gesellschaftlichen Normen noch nicht verinnerlicht hat. Ludovic leidet deshalb nicht unter seinem Anderssein, empfindet es nicht als befremdlich oder gar falsch. Kummer bereiten ihm nur die hilflosen Eltern, die abweisenden Nachbarn und sein Freund Jérôme (mit dem gleichen unergründlichen Blick wie in „Diebe der Nacht“: Julien Rivière), der plötzlich achtlos an ihm vorübergeht: gestern noch hatten sie beschlossen, eines Tages zu heiraten. Wieviel leichter hätten es die Erwachsenen, könnten sie ein Stück der kindlichen Unbefangenheit in die späteren Jahre retten. Ludovics Mutter ist es vielleicht gelungen. „Mach das, was du tun möchtest“, sagt sie am Ende zu Ludovic.

(CASABLANCA)

Tamara Dotterweich

 

Ludovic ist sieben Jahre alt und der festen Überzeugung, ein Mädchen zu sein. Das klingt etwas verrückt, aber wenn sich Mädchen in seinem Alter wünschen und einbilden, Jungen zu sein, dann wundert sich ja auch keiner. Ludovic ist quasi ein tausendprozentiges Mädchen mit bonbonbunten Tagträumen von Barbieglück und -schönheit, den Hochzeitstermin fest im Visier und wenn möglich immer ganz feminin in Rosarot.

Bei der Einzugsparty der Familie in der Reihenhaussiedlung wird Ludovics Auftritt in großer Garderobe noch als charmanter Gag hingenommen. Als er sich in der Schule dann ausgerechnet den Sohn von Papas Boss zum zukünftigen Ehegemahl aussucht und mit ihm schon mal die Trauungszeremonie durchprobiert, findet die pädagogische Toleranz ein jähes Ende.

„Ich wüßte nicht, wie ich reagieren würde, wenn das alles mir passieren würde“ gibt der belgische Regisseur Alain Berliner zu. Für sein Spielfilmdebüt „Mein Leben in Rosarot“ hat er sich mit der Autorin Chris van der Stappen auf ein scheinbar naheliegendes Gedankenspiel eingelassen, das, auf eine sehr anrührende, amüsante und glaubhafte Weise im „wirklichen Leben“ getestet, eine ganze Familie an den Rand des Nervenzusammenbruchs manövriert.

Kinder in Ludovics Alter dürfen sich alles mögliche einbilden, aber den Macho-Trumpf gibt selbst ein noch geschlechtsloser Steppke nicht ungestraft aus der Hand. Das bizarre Beharren auf seiner Bestimmung zur lebenden Barbiepuppe, das George du Fresne so überzeugend darstellt, treibt auch die tolerante Mama (Michèle Laroque) schließlich auf die Palme: wenn der sanfte Satansbraten mit seinem Wunschgeschlecht die Familie in den Ruin treibt, dann darf man ihm das auch mal jenseits aller Pädagogik gehörig unter die Nase reiben.

Es ist mehr als selten, daß aus eher akademischen Fragestellungen derart handfestes Kino wird. Berliner läßt seine umwerfenden Schauspieler alltagsnah, sympathisch unvernünftig und zuweilen traumtänzerisch mit ihren Sorgen hantieren und spiegelt das gekonnt in seinen Bildern. So entstand ein federleichter Film über eine verblüffend zählebige Denk- und Gefühlsschablone.

(Casablanca, Nürnberg)

–wu–

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