Lohn der Einfalt
Billy Bob Thorntons Südstaaten-Melodram „Sling Blade“

Ob er noch einmal jemanden umbringen werde, fragt das Mädchen von der Schülerzeitung den zweifachen Mörder. Der läßt sich Zeit mit der Antwort. Lange hört man nichts als das nervöse Aneinanderreiben seiner Hände. Dann stößt er tonlos ein „Ich schätze nicht“ hervor und setzt hinzu: „Ich habe keinen Grund, jemanden umzubringen.“

„Ich habe keinen Grund, jemanden umzubringen“ – wie eine Drohung liegt dieser Satz fortan über diesem Film, wann immer wir Karl Childers sehen: wie er, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, mit unbeweglichem Gesicht, fest aufeinandergepreßten Lippen und stoisch gleichförmigem Gang eine Straße entlanggeht, wenn er sich mit bedächtigen Bewegungen Pommes Frites in den Mund schiebt, wenn er mühsam nach den richtigen Worten sucht. Fast immer beginnen seine Sätze mit einem „Ich schätze...“, und immer schickt er ihnen ein bestätigendes „mmhmmh“ hinterher, Zeichen seiner Unsicherheit und Zeichen der versuchten Versicherung seiner selbst zugleich.

Karl, als Kind von den Eltern in einem Holzschuppen gehalten, hat als Zwölfjähriger einen Liebhaber seiner Mutter getötet, weil er sie bedroht glaubte, und gleich darauf seine Mutter, weil sie ihm zu verstehn gab, daß er etwas Unrechtes getan hatte. 25 Jahre später wird er aus der Psychiatrie als geheilt entlassen und kehrt in seinen Heimatort im amerikanischen Süden zurück. Das ist der Beginn des Films „Sling Blade“ ein Titel, der in beklemmender Weise an das helle Geräusch einer durch die Luft sirrenden Klinge erinnert, an Schärfe und Schmerz. Hinter diesem Titel könnte sich ein spekulativer Psycho-Thriller verbergen, doch nichts hat Regisseur, Drehbuchautor (mit „Oscar“-Ehren) und Hauptdarsteller Billy Bob Thornton weniger im Sinn. Sein Film nimmt sich viel Zeit für seinen schwierigen Protagonisten und beobachtet ihn mit einer – zumal für amerikanische Kinoge schichten – erfreulich behutsamen Geduld.

Nicht nur der Titel, auch Karls Nachname ist mit Bedacht gewählt: Childers birgt in sich das englische Wort für „Kind“, und tatsächlich kennzeichnet den Charakter dieses bald 40jährigen eine gern Kindern zugeschriebene Unfähigkeit, sich zu verstellen, und ein noch nicht von gesellschaftlichen Normen diktierter Zugang zur Welt. So scheint es nur natürlich, daß Karl nach seiner Entlassung in der Unbefangenheit eines Heranwachsenden, dem zwölfjährigen Frank, Zuneigung findet. „Er lebt nur in seinem Herzen“, sagt Karl einmal über Frank, „das ist ein furchtbar großer Ort zum Leben“.

Tragischer Konflikt

Das hat Karl an sich selbst schmerzhafter erfahren als Frank bevorsteht. Die Sehnsucht nach Harmonie hat aus seinem Herzen einen ebenso hellen wie nachtschwarzen Ort gemacht. Geistig zurückgeblieben, vermag er moralische Kategorien, wie sie die Gesellschaft festschreibt, nicht zu erfassen. „Gut“ und „böse“ unterscheidet er im Zweifelsfall nicht mit dem Verstand, sondern dem Gefühl. Dieses Dilemma seines Anti-Helden macht der Film in seinen stärksten Momenten auch transparent als Konflikt für uns alle. Dadurch und auch angesichts von Thorntons darstellerischer Leistung verblassen manche Zugeständnisse an das Hollywood-Kino, manche Gefälligkeit dem Gemütvollen gegenüber, die auf Kosten der Glaubwürdigkeit geht.

„Ich habe keinen Grund jemanden umzubringen“: wenn Doyle auftaucht, ein cholerischer Alkoholiker, der Frank und seine Mutter tyrannisiert, weiß man, daß der Satz seine Gültigkeit verloren hat. Es spricht für diesen Film, daß er das tragisch verirrte Innenleben seines Protagonisten zu keinem Zeitpunkt der äußeren Dramatik opfert. Tamara Dotterweich

 

Es ist nicht anzunehmen, daß Karl Childers so berühmt wird wie Forrest Gump, auch wenn die zwei ein paar wesensgleiche Merkmale haben. Der reine Tor steht in seiner Einfalt für die Wahrheiten des Herzens, heißt es gern. Da muß man natürlich aufpassen, denn wer weiß schon, wo die Grenzen zur Debilität verlaufen. Jedenfalls hat es Billy Bob Thornton in der Nachfolge Tom Hanks' geschafft, die höheren Kreise von Los Angeles für sich einzunehmen. Für das Drehbuch von „Sling Blade“ bekam er einen Oscar, als Hauptdarsteller war er nominiert, als Regisseur muß er sich die Sporen erst noch verdienen.

Mit der Figur des schizophrenen Karl Childers beschäftigte sich Thornton schon seit zehn Jahren. Er gab Theater-Performances und fand schließlich Geldgeber für eine ausschweifende (aber äußerst preiswerte) Verfilmung eines Stoffs, der eher die Themen der fünfziger Jahre nachvollzieht. Ohne die beklemmende Präsenz des Schauspielers Thornton, der alles in Personalunion regelte, könnte sich seine Außenseiter-Geschichte über mehr als zwei Stunden schwer halten.

Die Südstaaten der USA waren schon immer ein Hort der Vorurteile, des Rassenwahns und der Bigotterie. Diese Stimmung nutzt Thornton für gegenläufige Entwicklungen. Als nämlich der breitschädelige, massige Karl als Entlassener der Heilanstalt in seinen Heimatort zurückkehrt, trifft er auf ausnehmend freundliche Leute. Allerdings hat er in 25 Jahren Klinikaufenthalt den realen Bezug zur Welt verloren und wird nun – reichlich märchenhaft – ohne Sozialhelfer auf Wanderschaft geschickt.

Die Bluesgitarre und der Frostee Cream Imbiß setzen Zeichen für das Milieu, das Karl wie ein Fremder betritt, obwohl er dort zu Hause war. Als Zwölfjähriger hat er seine Mutter und deren Liebhaber umgebracht und später im Bibelstudium die eigenen Marken zwischen Gut und Böse gesetzt. Regisseur Thornton zeigt seinen gespaltenen Helden zu Beginn und in den Schlußbildern am gleichen Punkt. Wortlos starrt er aus dem Anstaltsfenster, vorgeschobenes Kinn, unbewegter Blick.

Im Zeitlupentempo vollzieht sich der letzte Akt im gemütsarmen Leben dieses Childers. Auf einem schmalen Grat gelingt ihm die Annäherung an einen Jungen, kann Halt finden bei Menschen, die auch nicht unbedingt ins Muster einer Kleinstadt von Arkansas passen. Seine Vorstellungen von Gottesfürchtigkeit führen zwangszweise zum Desaster, was dazwischen inszeniert wird, ist schrecklich platt und gibt sich als schlechter Tennessee Williams aus. Symbolhaft wiederholen sich die Verbrechen aus der dumpfen Sicht eines geistig Behinderten, der „die Guten“ intuitiv schützen will.

Zwei Pluspunkte haben „Sling Blade“ zum Erfolg verholfen. Thorntons völlige Identifikation mit der Rolle und seine Einblicke in eine amerikanische Gesellschaft, die weit entfernt ist vom New Deal der Clinton-Ära. Darüber hinaus ist das seltsame Martyrium des Karl Childers weder ein erhellender Beitrag zur Diskussion über geistesgestörte Kriminelle noch über deren Behandlung im Strafvollzug. Childers nämlich, auch davon erzählt dieses Kinostück, wollte gar nicht aus der Verwahrung. INGE RAUH

Zur offiziellen Homepage von Sling Blade (engl.)

Informationen zu Anfangszeiten in den Kinos

zurück zur Titelseite

© NORDBAYERN INFONET