"Stella does Tricks"
Possen im Milieu

Noch sitzen sie nebeneinander auf einer Parkbank: Die 15jährige Stella (Kelly Macdonald), die den gutsituierten, älteren Herrn Mr. Peters (James Bolam) im Moment „Vater“ nennt und ihm ihre „Liebe“ mit sexuellen Handlungen beweist. Im Verlauf von Coky Giedroycs Film „Stella does tricks“ wird das Mädchen erst ihren Zuhälter und Ersatzvater Peters der Polizei übergeben und sich im Anschluß daran an ihrem biologischen Vater für den Inzest in der Kindheit rächen. Der Zuschauer aber wird trotz der gezeigten Brutalität kein bißchen Mitleid für diese Männer empfinden. Denn Stellas Biographie, die der Film behutsam und dennoch unsentimental aufrollt, lassen ihren Widerstand als die letzte Konsequenz erscheinen: endlich wird das Opfer zum Täter, und umgekehrt.

Diese Identifikation ist zum einen dem psychologischem Konzept des Films und den genauen Milieustudien zu verdanken, die die Regisseurin in der Drogen- und Prostituiertenszene machte. Aber mehr noch liegt es an der filmischen Umsetzung und hierbei vor allem an Kelly Macdonald (“Trainspotting“), die ihre Stella zwischen übermütiger Kindlichkeit und schwermütiger Abgeklärtheit spielt: Eine Lolita, die in ihren Pumps lächerlich wirkt und deren unsicherer Gang auf den hohen Absätzen symbolisch für ihre buchstäblich mangelnde Bodenhaftung steht.

Was den Film besonders auszeichnet, ist sein glaubwürdiges, fast notwendiges Spiel mit den verschiedenen Zeit- und Bewußtseinsebenen: Stellas Leben erschließt sich bruchstückhaft in Rückblenden, vor ihrem tristen Alltag zwischen Freiern, Vergewaltigungen und Drogen flüchtet sie sich in eine Phantasiewelt.

Ob es Stella am Ende wirklich zum traurigen Clown auf der Bühne schafft, oder ob das nur ihre allerletzte Wahnvorstellung im Drogenrausch ist, kann jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden. sc

 

Ja, das können sie, die britischen Filmemacher: Empirisch ermittelte wie durch Eigenrecherche vorgefundene Wirklichkeit nach geschickt erfolgter dramaturgischer Fiktionalisierung zu einem filmischen Kraftpaket zu schnüren, für das die Bezeichnung „Sozialstudie“ kein Schimpfwort ist. Und durch beeindruckende visuelle Stilisierung vermeidet diese neue Regie-Generation die ätherische Trostlosigkeit, die von den ähnlich gelagerten Werken des „Spülsteinrealismus“ Anfang der 60er Jahre ausging.

Die Idee zu „Stella does tricks“, dem ersten Spielfilm der Dokumentaristin Coky Giedroyc, entstand folgerichtig während der Arbeiten zu einer Reportage über Obdachlosigkeit. Also ist die erzählte Mär im Film eine traurige: Eine 15jährige Stricherin will aus ihrem „Beruf“, aus ihrem Milieu, aussteigen – gegen den Willen ihres sich väterlich gebenden, aber eiskalten Zuhälters mit dem Gesicht und dem Habitus eines Biedermanns. Vorerst gelingt Stella ihr Vorhaben, doch einmal Milieu, immer Milieu: Ihr neuer Freund ist ein Junkie, der Stellas Körper als Bezahlung für seine Drogen feilbietet.

„Stella does tricks“: Für ihre Umgebung macht Stella Possen, weil sie sich permanent gegen die ungeschriebenen Gesetze des Milieus auflehnt. Regisseurin Coky Giedroyc dagegen macht keine: Ihr Film ist klar durchstrukturiert, alle Begegnungen und Vorkommnisse dienen allein dazu, Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur zu definieren und auszuloten.

Daß der Film in zwei Teile zerfällt, ist beabsichtigt: Neben dem ersten, mit seinem nervösen, fast fiebrigen Rhythmus, fällt der zweite Teil mit der „neuen“, aber doch wieder nur Altbekanntes bringenden Sozialisation Stellas beinahe episch aus. Ein gelungener Film mit einer großartigen Kelly Macdonald in der Hauptrolle. mko

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