Ein Leben zwischen
Angst und Sehnsucht

Über sechs Millionen Kinder sind weltweit auf der Flucht. Sie fliehen vor Kriegen, vor Vertreibung, vor dem Hunger. Ihr Leben ist Angst, Mißtrauen, Gewalt. Wieviele Flüchtlingskinder in Deutschland leben, weiß keiner. Nur das: 1995 kamen 720 Teenager nach Bayern. Gezählt wurde nur, wer alleine kam, ohne Eltern oder Verwandte.

Die Wochenenden findet Meberet (16) am schlimmsten. "Da ist es so langweilig", sagt sie. Kino- oder Cafébesuche sind bei 55 Mark Taschengeld im Monat selten drin. Um sich die Zeit zu vertreiben, hockt Meberet also stundenlang in ihrem Zimmer und hört Radio. Oder sie geht nach unten, zieht sich mit den anderen MTV rein. Meberet versucht so, die quälende Sehnsucht nach ihrer Familie zu vergessen.

Das hübsche Mädchen aus Äthiopien (Afrika) hat einen Bruder und eine Schwester, aber seit ihrer Flucht vor einem Jahr hat sie von ihnen nichts gehört. Meberet sagt, Regierungssoldaten hätten ihren Vater ermordet und ihre Mutter verhaftet. Aus politischen Gründen. Ein Freund ihres Vaters habe zu ihr gesagt: Du mußt fort. Irgendwer besorgte das Flugticket. Meberet kam nach Deutschland. Allein. Nun bittet sie um politisches Asyl. Sie hat Angst, zurück zu müssen. Sie glaubt, daß sie gefoltert würde oder getötet.

Meberet wohnt mit elf Jugendlichen in einer Nürnberger Wohngemeinschaft für Flüchtlingskinder. Sie alle sind alleine gekommen - aus China, Albanien, Sri Lanka, der Türkei. Meberet hat Glück. Sie teilt sich ein Zimmer mit einem Mädchen, das auch aus Äthiopien kommt. Die zwei können sich in ihrer Muttersprache unterhalten, auf amharisch, ohne dauernd nach Wörtern suchen zu müssen, ohne zu überlegen, ob es Eierspiegel oder Spiegeleier heißt.

Meberet lernt eifrig deutsch. Sie will diese Sprache richtig gut können, "damit ich deutsche Freunde finde". Das ist nicht leicht. In der WG gibt es keine Deutschen und in ihrer Klasse auch nicht. Es ist eine Klasse nur für Aussiedler, Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber. Meberet geht gern in die Schule: "Weil ich da nicht so oft an mein Land denken muß." Über ihrem Bett hat Meberet ein Christusbild aufgehängt. Vor dem Schlafengehen schaut sie es an und betet für ihre Familie. Oft weint sie dann. Meberet will Menschen helfen. Sie möchte Altenpflegerin werden. Stolz erzählt sie von dem Praktikum, das sie kürzlich in einer Arztpraxis absolviert hat, und davon, daß sie einmal sogar Blutdruck messen durfte. Als sie so redet, verändert sie sich. Auf einmal sprüht das vorher so stille Mädchen vor Energie, auf einmal lachen ihre Augen.

Berhane (15) (Name geändert) aus Eritrea, dem Nachbarland von Äthiopien, lebt mit seiner Mutter und seinen fünf Brüdern schon seit fünf Jahren in Deutschland. 1991 ist die Familie vor dem Bürgerkrieg, der zwischen Eritrea und Äthiopien tobte, geflohen. Inzwischen ist der Krieg vorbei. Doch Berhanes Familie will nicht zurück. Vielleicht aus Angst vor politischer Verfolgung. Vielleicht hoffen die Brüder und ihre Mutter aber auch nur auf ein besseres Leben hier, was kein Gericht als Asylgrund akzeptieren würde.

Die Familie lebt in einem Wohnheim für Asylbewerber in Franken. Ein trostloses Zuhause. Um zu Berhane zu kommen, muß man triste Flure passieren und einen Hof, in dem es nach Müll und Urin stinkt. Berhane teilt sich mit zwei Brüdern ein 18-Quadratmeter-Zimmer. Seine Habseligkeiten, ein paar Bücher und Teddybären, hat der Junge mit den zu Zöpfchen geflochtenen Haaren auf der Heizung gestapelt. Wenn Berhane auf seinem Bett sitzt und aus dem Fenster schaut, sieht er eine grau-braune Schallschutzwand, die den Lärm vorbeidonnernder Züge abhalten soll.

Wie Meberet geht auch Berhane gern zur Schule. Der Grund ist, daß er es im Wohnheim nicht aushält. Er kann sich nie zurückziehen. Es nervt ihn manchmal total, wenn er lesen will und seine kleinen Brüder herumtoben. Dann diese Langeweile im Haus, das sinnlose An-die-Wand-Starren von Menschen, die nicht arbeiten dürfen.

Berhane redet nicht über Gefühle. Daß er Sehnsucht nach früher hat, merkt man daran, daß er strahlt, als er von Eritrea erzählt: "Da ist es warm. Die Kinder sind immer draußen. Wir waren so zehn bis zwanzig Kinder, die auf der Straße Völkerball gespielt haben und so was." Im Hof des Asylbewerberwohnheims hat Berhane anfangs mit anderen Jugendlichen Basketball gespielt. Den Korb gibt es nicht mehr.

Auf das Fenster über seinem Bett hat Berhane ein Poster geklebt. Es zeigt Michael "Air" Jordan, den legendären farbigen Basketballer. Jordan ist für Berhane "einer, der es geschafft hat". Auch Berhane will etwas schaffen: Er möchte Architekt werden und zurückkehren nach Eritrea, "mein Land aufbauen helfen". Berhane hat sein Schicksal nicht in der Hand. Seine Familie wird vielleicht abgeschoben. Vielleicht bald.

BIRGIT DACHLAUER

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© Nürnberger Nachrichten 1996