Allergien nehmen seit Jahren dramatisch zu Trotz vieler Vermutungen lassen sich die Gründe für den Anstieg noch nicht sicher erklären VON DIETER SCHWAB Medizinprofessor Erwin Schöpf tat, was Ärzte schon mal gerne machen - er glaubte den Patienten nicht. Als er vor 15 Jahren eine Umfrage las, nach der sich jeder dritte Bundesdeutsche als Allergiker einstufte, machte er sich seinen eigenen Reim darauf: "Wir dachten", gesteht er heute, "daß da die Allergie gegen die Schwiegermutter mitgezählt worden war." Heuschnupfen War sie aber nicht. In der Zwischenzeit ließ sich auch der Spezialist der Hautklinik der Freiburger Universität eines anderen belehren: Um die 30 Prozent in den industrialisierten Ländern leiden an sogenannten atopischen Allergien. Dabei handelt es sich neben dem weitverbreiteten Heuschnupfen um Asthma und das atopische Ekzem, besser unter dem früheren Namen Neurodermitis bekannt. Die Zahlen nehmen in den letzten Jahren dramatisch zu: Vor einem Vierteljahrhundert litten gerade 4,2 Prozent der Schulkinder an Heuschnupfen, heute sind es schon 10,2 Prozent. Lange Zeit galt es unter Dermatologen als ausgemachte Sache, daß die zunehmende Umweltbelastung für diesen rasanten Zuwachs verantwortlich sei. Doch mittlerweile ist klar: So einfach ist die Sache nicht, schilderte Schöpf vor Journalisten in Westerland auf Sylt den derzeitigen Kenntnisstand. Erst schemenhaft zeichnet sich ab, welch kompliziertes Zusammenspiel allergisches Leiden auslösen kann. Am Anfang steht das Gen: Etwa ein Viertel aller Menschen bekommen von ihren Eltern eine Erbausstattung mit ins Leben, die sie anfällig für Allergien macht - das Immunsystem neigt also dazu, auf eigentlich ungefährliche Pollen, Tierhaare oder Nahrungsmittel heftig zu reagieren. Die Folge sind dann Triefnase, Atemnot oder ein stark juckendes Ekzem. "Daran läßt sich nicht rütteln", weiß Regina Fölster-Holst von der Uni-Hautklinik in Kiel. Klar ist mittlerweile auch: Zum Beispiel mit Dieselruß verschmutzte Pollen lösen aggressivere Reaktionen aus als saubere. Darauf kamen japanische Wissenschaftler, als sie an stark befahrenen Straßen viel häufiger Zedernallergien fanden als in Zedernwäldchen, dem Quell der üblen Pollen. Damit schien klar: Schadstoffe sind die Alleintäter. Doch mit dem deutschen Mauerfall stürzte auch diese Theorie in sich zusammen: Bei Allergietests im Osten und im Westen reagierten im viel stärker verschmutzten Osten nur halb so viele Schulkinder wie im sauberen Westen - die Wirklichkeit paßte nicht zur Theorie. Das Grübeln über diesen Befund legt einen anderen Schluß nahe: Allergien sind der Preis für das Zurückdrängen der Infektionskrankheiten. In den Kinderkrippen der DDR hatten allerlei Bakterien und Viren ein ideales Biotop, und Darmparasiten feierten fröhliche Urständ. Im Westen der Mauer dagegen breitete sich Keimfreiheit aus: "Das Immunsystem ist dann unterbeschäftigt, wir ziehen unsere Kinder zu steril auf", mutmaßt Schöpf, und so kommt es quasi aus Langeweile auf dumme Gedanken. Damit zeichnen sich auch Wege ab, wie Allergiker das Krankheitsrisiko ihrer Kinder mildern können: Vier bis sechs Monate Stillen, empfiehlt Regina Fölster-Holst, Plastikhüllen um Matratzen und Bettzeug, um die Hausstaubmilben in Schach zu halten, waschbare Bezüge und keine Haustiere. Passivrauchen muß tabu sein, Impfungen dagegen Pflicht, um das Immunsystem auf Trab zu halten. Und ein bißchen unsteriler Dreck kann hie und da nicht schaden. Etagenwechsel Wen es mit Heuschnupfen erwischt hat, der muß konsequent behandeln, so Dieter Vieluf von der Hamburger Uni-Hautklinik: Sonst gibt es, derzeit bei jedem dritten, den gefürchteten Etagenwechsel zum Asthma. Das bedeutet Fernhalten vom Auslöser, Senken der Reizschwelle durch Hyposensibilisierung und Behandlung der Symptome durch sogenannte Antihistaminika. Eine moderne Präparategeneration macht jetzt weder müde noch dick, manch eines wirkt sogar antiinfektiös. Selbst beim atopischen Ekzem ist Panik fehl am Platz, ergänzt Fölster-Holst: Die lange Liste mit Sensibilisierungen im Labor sagt noch gar nichts, nur jene Nahrungsmittel müssen gemieden werden, die bei komplizierten Tests in der Klinik das Leiden auch auslösen. "Und das sind meist nur ein oder zwei", so die Spezialistin. |
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