Gefahr des "gläsernen Patienten"
Patient soll seine Daten als Tagebuch immer bei sich tragen - Mehr Kommunikation als Ergebnis?

VON KLAUS-PETER GÖRLITZER

In der Theorie ist alles klar: Jeder Patient hat jederzeit das Recht, seine Behandlungsunterlagen einzusehen und sich auf eigene Kosten Kopien davon anzufertigen - ohne dies begründen zu müssen. Das hat der Bundesgerichtshof bereits 1982 klargestellt. Wie die Praxis in Praxen und Krankenhäusern aussieht, weiß Edeltraud Paul-Bauer aus ihrer Beratungsarbeit bei der Bremer Patientenstelle: "Viele Ärzte sagen: ,Sie haben kein Recht auf Einsicht` und warten ab, ob man sich dagegen wehrt."

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Patientenstellen wirbt nun für eine Idee, die dafür sorgen soll, das Informationsrecht im Alltag besser durchsetzen zu können: Eingeführt werden sollte ein "Patiententagebuch". Darin könnten nicht nur ärztliche Diagnosen, Befunde, Röntgenbilder oder Empfehlungen abgeheftet werden; aufschreiben sollten die Patienten auch ihre Erfahrungen, Ausgangslage der Behandlung sowie Fragen und Wünsche an die Mediziner. Allerdings setzt das voraus, daß Ärzte nach jeder Behandlung ihre Erkenntnisse unaufgefordert an ihre "Kunden" weitergeben. Zudem müssen die Bürger bereit sein, sich aktiv mit ihrer Gesundheit und Krankheit zu beschäftigen.

Andere Perspektive

"Der entscheidende Unterschied zu einer Krankenakte", bringt Hans-Jürgen Jonas von der Kölner Patientenstelle die Idee auf den Punkt, "bestünde in dem Perspektivenwechsel: Ärzte müßten auf ihre Patienten, auf unsere Sprache eingehen - und nicht umgekehrt." Und nur der Betroffene soll entscheiden, was in seinem Tagebuch abgeheftet und beim Arzt vorgezeigt wird.

Jonas und Mitstreiter propagieren das Tagebuch auch als selbstbestimmte Alternative zu elektronischen "Patientenkarten, die - so die Werbeslogans mancher Krankenkassen und Ärztefunktionäre - mehr Mündigkeit und Kommunikation ins Arzt-Patienten-Verhältnis" bringen sollen. Initiativen und Datenschützer sehen mit den computerlesbaren Chipkarten den gläsernen und jederzeit kontrollierbaren Patienten kommen. Denn die an die Technik angepaßte Darstellung von Krankengeschichte und Medikation - also standardisierte Ziffernkombinationen für Diagnosen oder stichwortartig formulierte Befunde ohne erläuternden Behandlungskontext - läßt sich mittels Computer mühelos automatisch auswerten.

Verschlüsselt

Verknüpft mit anderen EDV-gerecht verschlüsselten Daten erleichtern sie etwa Wirtschaftlichkeitsprüfungen ärztlicher Arbeit und Studien über Risikofaktoren bei Patienten. Ob Krankenkassen und staatlich beauftragte Epidemiologen bei Interpretation der Forschungsergebnisse Patienteninteressen im Blick haben, ist zumindest fraglich. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat den Politikern 1995 empfohlen, zusätzliche Tarife für bestimmte "individuelle Risiken" und die "Eigenverantwortung" der Versicherten zu fördern.

Das erste deutsche Patientenkartenprojekt hat im vergangenen Sommer unter Regie der Kassenärztlichen Vereinigung Koblenz in Neuwied begonnen, auch Krankenkassen planen Feldversuche. Das erklärte Ziel der Kartenlobby, mittelfristig die Mehrheit der Bürger zum Umstieg auf die elektronische Krankenakte zu bewegen, hat die Datenschutzbeauftragten alarmiert: "Die massenhafte Einführung der Karten", unken sie, "erzeugt einen sozialen Druck auf die Betroffenen, sie mitzuführen und vorzuzeigen" - nicht nur beim Arzt, sondern womöglich auch bei Versicherungen, Arbeitgebern, Behörden.

"Frühzeitig vorbeugen"

Bereits im März 1994 forderten die Datenschutzbeauftragten die Parlamente in Bund und Ländern auf, möglichen Mißbräuchen frühzeitig vorzubeugen und Regelungen für Chipkarten im Gesundheitswesen zu erarbeiten. Passiert ist nichts.

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© Nürnberger Nachrichten 1996