Umweltchemikalien können
die Fortpflanzung behindern
Im Berliner Umweltbundesamt schrillen die Alarmglocken: Die bisher bekannten Zahlen und Indizien wirken überzeugend

VON ROLAND H. KNAUER

Tun sie es oder tun sie es nicht – beeinflussen Hormone oder andere Chemikalien Fortpflanzung und Gesundheit des Menschen? Diese Frage beantworteten Wissenschaftler auf dem Berliner Frühjahrsseminar der Informationsstelle Umwelt des GSF-Forschungszentrums mit einem knappen Resümee: Zahlen und Indizien wirken überzeugend, der Beweis aber steht noch aus.

Alarmglocken schrillen zum Beispiel bei Andreas Gries vom Umweltbundesamt in Berlin, wenn er sich Statistiken über den Zustand der Samenflüssigkeit bei Männern anschaut. Seit den dreißiger Jahren hat sich die Zahl der lebenden Samenzellen pro Milliliter in manchen Regionen der Erde von 120 Millionen auf 60 Millionen glatt halbiert.

Margret Schlumpf vom Züricher Universtitätsinstitut für Pharmakologie ergänzt die Statistik mit einer Studie aus Belgien, nach der die Beweglichkeit der verbliebenen Samen rasch abnimmt und zunehmend verstümmelte Spermien auftreten.

Das Aussterben der Menschheit aber läßt sich daraus kaum herauslesen: Denn es gibt gleichzeitig etliche Weltgegenden wie Finnland oder New York, in denen sich die Qualität des männlichen Samens nicht oder kaum verschlechtert hat. Auch müssen nicht Hormone Grund für die Verschlechterung sein, kennen doch die Forscher eine Reihe weiterer Gründe: So verringert zum Beispiel höhere Temperatur die Spermienzahl deutlich, Ursache könnte demnach auch der vermehrte Aufenthalt in geheizten Räumen sein.

Zunahme

Auch die exakten Ursachen für die rasante Zunahme der Hodenkrebsfälle, die sich in den Ländern mit einer funktionierenden Tumorstatistik in den letzten Jahren nahezu verdoppelt haben, liegen noch im dunkeln. Ein Zusammenhang scheint jedoch mit der Häufung von Mißbildungen männlicher Geschlechtsorgane wie dem Hodenhochstand oder der gespaltenen Harnröhre vorzuliegen. Und das wiederum lenkt den Verdacht auf natürliche oder künstliche Sexualhormone, die während der Schwangerschaft auf den Embryo einwirken.

Die Bildung der Geschlechtsorgane und des Gehirns wird nämlich durch ein fein ausgewogenes Gemisch von Hormonen der Mutter gesteuert. Brin gen Substanzen aus der Umwelt diese Balance im Embryo durcheinander, können leicht Mißbildungen am Geschlechtsorgan oder in einzelnen Zellen entstehen. Solche Anomalien in Zellen wiederum benötigen 20 bis 30 Jahre, bis sie sich beeinflußt durch weitere Faktoren eventuell zu einem Tumor auswachsen. Gerade Hodenkrebs aber tritt vor allem bei 20- bis 30jährigen Männern auf – der Ursprung könnte demnach leicht in der Embryonal-Phase liegen.

Experiment

Wie stark Hormone die Entwicklung bereits in der Schwangerschaft beeinflussen, zeigt ein Experiment, das Patricia Cameron vom Fachbereich Meere und Küsten der Umweltstiftung WWF zitiert: Reift ein weiblicher Rattenembryo in der Gebärmutter zwischen zwei männlichen Artgenossen, ist das Weibchen nach der Geburt aggressiver, erreicht die Geschlechtsreife später, bleibt weniger attraktiv für Männchen und hat weniger Nachkommen als ein Weibchen, das sich zwischen zwei anderen Weibchen oder zwischen einem Weibchen und einem Männchen entwickelt hat. Ursache für diese Veränderungen ist ein zeitlebens höherer Spiegel des männlichen Sexualhormons Testosteron in dem Rattenweibchen. Und der wurde vermutlich ausgelöst durch höheren Testosteron-Spiegel in der Gebärmutter, mit dem ja die männlichen Embryonen versorgt werden mußten.

Solche Ergebnisse auf den Menschen zu übertragen, fällt schwer. Nachdenklich aber stimmen sie auf alle Fälle. Wird doch die Liste der Chemikalien in der Umwelt immer länger, die ähnliche Wirkungen wie Hormone haben. Bisphenol aus der Innenbeschichtung von Konservendosen, Kronenkorken und Wasserleitungen gehört genauso wie Phtalate dazu, die Plastikhersteller einsetzen, um ihr Produkt weich zu machen.

Bei vielen dieser Substanzen aber ist noch lange nicht endgültig bewiesen, ob sie wirklich eine „schleichende Hormonvergiftung“ auslösen, so Hasso Seibert vom Kieler Universitätsinstitut für Toxikologie an. Oft wurde eine solche Wirkung nur im Reagenzglas beobachtet, das Übertragen auf den Menschen ist problematisch.

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