Bei Sexualdelikten sind ,
Väter als Täter' selten
Um die 2,7 Millionen Menschen wurden während ihrer Kindheit sexuell mißbraucht - Auch Jungen sind überraschend häufig Opfer

VON DIETER SCHWAB

Der Slogan paßte so schön ins feministische Weltbild und reimte sich sogar noch: Mit dem Schlagwort „Väter als Täter“ wies die Frauenbewegung vor zehn Jahren auf das bislang tabuisierte Problem hin, daß viele Mädchen und Jugendliche sexuell mißbraucht wurden – und werden.

Dabei sind die spektakulären Fälle, die getöteten Kinder Kim und Natalie oder der Handel mit Kinderpornos, nur die Spitze des Eisberges. Sexuelle Gewalt findet meist woanders statt, in der Familie und im Bekanntenkreis, ausgerechnet da, wo Mädchen und in gar nicht so seltenen Fällen Jungen eigentlich absoluten Schutz genießen sollten.

Doris Bender vom Psychologischen Institut der Universität Erlangen zitierte kürzlich, während einer Veranstaltung der Karl-Bröger-Gesellschaft, Zahlen einer niedersächsischen Studie, die erstmals Licht ins Dunkel brachte: Von 3000 befragten Personen berichteten 8,6 Prozent der Frauen und 2,8 Prozent der Männer von sexuellem Mißbrauch während ihrer Kindheit und Jugend. Dies entspricht, hochgerechnet auf die Bundesrepublik, zwei Millionen Frauen und 700000 Männern.

Besonders gefährdet sind Kinder danach zwischen dem 7. und dem 13. Geburtstag; in diesem Zeitrahmen spielt sich die Hälfte der Fälle ab. Die Täter waren fast immer, zu 95 Prozent, Männer, aber eher selten die eigenen Väter: In der Hälfte der Fälle waren es Bekannte an Mädchen, zu einem Viertel Fremde. Beim Rest handelte es sich um Angehörige, und davon wiederum zu einem Viertel um Väter oder Vaterfiguren. Stief- oder Pflegeväter sind darunter siebenfach überrepräsentiert.

Die öffentliche Debatte der letzten Jahre hat wenigstens eines gebracht – mehr Anzeigen. Jedes Jahr sind die Zahlen gestiegen, weiß Renate Minarik, Frauen- und Kinderbeauftragte des Polizeipräsidiums Mittelfranken. 1987 waren es noch 153, 1995 dagegen 268. Für sie ist das nicht ein Beweis für das Ansteigen des Deliktes, sondern für die gewachsene Sensibilität.

Narben können heilen

Besonders schwierig wird es, wenn der Partner der Mutter unter Verdacht steht, so Irma Gebhardt vom Jugendamt der Stadt Nürnberg. Manche Mütter wollen dann das Problem nicht sehen, und häufig muß dann das Kind von der Familie getrennt werden – nach den seelischen Belastungen durch die Tat ein zweiter tiefer Schnitt ins Leben des Opfers. Wenn aber Mutter oder jemand anderes das Kind in dieser Zeit stützt, können die seelischen Narben folgenlos verheilen.

Was aber tun, um die Taten oder wenigstens den Rückfall zu verhindern? Da sind die Fachfrauen weitgehend ratlos: Sibylle Häfner-Raab bietet in einer Beratungsstelle der Stadt Nürnberg auch Behandlungen der Familie mit dem Täter an, erlebt aber „leider nur ganz, ganz selten“, daß der auch mitkommt. Viele Opfer dagegen haben eine Therapie dringend nötig – und die dauert dann auch zwei Jahre.

An die Therapie der Täter glauben weder Doris Bender noch Renate Minarik so recht, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen: „Es sind viel zuwenige Plätze da“, kritisiert Bender, und Minarik weiß von vielen Fällen, bei denen alle Mühe vergebens war.

Selbstsicher

Selbstsicher müssen Kinder werden, und nein sagen müssen sie lernen – das ist unumstritten. Doch zu viel Warnung vor bösen fremden Männern kann schädlich sein, so Doris Bender: Womöglich leidet dann später das Verhältnis zur Sexualität. Schließlich sind Sexualdelikte mit Todesfolge „extrem seltene Ereignisse“.

Und Renate Minarik sieht die Sache ganz polizeilich-pragmatisch: Wenn Mädchen auf dem Schulweg zu viel nach möglichen Verbrechern Ausschau halten, sind sie besonders gefährdet – weil sie dann die Autos übersehen.

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