Zum allerersten Mal könnte eine Autoimmunkrankheit jetzt heilbar geworden sein
Ist es Ignoranz oder
berechtigte Vorsicht?
Ergebnisse aus Kiel werden nur sehr zögernd aufgenommen – Konservative Medizin

VON DIETER SCHWAB

Wenn das Musterbeispiel einer konservativen Wissenschaft gesucht wird, dann kann es nur die Medizin sein. Das muß nicht unbedingt ein Nachteil sein: Wenn Ärzte neue Behandlungsansätze vorschnell an Patienten ausprobieren – dann haben die Kranken den Schaden.

Aber diese Vorsicht hat auch ihre Schattenseiten: Als der Schwede Sven-Ingmar Branemark die erstaunliche Eigenschaft des Werkstoffs Titan vorstellte, mit dem menschlichen Knochen zu verwachsen, wurde er als Scharlatan verteufelt. Heute gilt das Metall als Gold des Chirurgen.

Müdes Lächeln

Als australische Forscher vor anderthalb Jahrzehnten ein Bakterium mit dem Namen Helicobacter pylori für Magengeschwüre verantwortlich machten, ernteten sie allenfalls ein müdes Lächeln. Viele Jahre lang wurde ungezählten Patienten die beste Behandlung mit einem Antibiotikum vorenthalten, weil Konservativismus und Ignoranz so nahe beieinanderliegen.

Derzeit setzt ein deutscher Wissenschaftler, der Kieler Immunologe Professor Hartwig Euler, seinen wissenschaftlichen Ruf aufs Spiel: Er ist sicher, an der dortigen Christian-Albrechts-Universität eine erfolgreiche Behandlung für ein Leiden entwickelt zu haben, das bisher als unheilbar galt: die Rheumaform Lupus erythe matodes. An ihr leiden in der Bundesrepublik etwa 25 000 Menschen, vorwiegend Frauen, und für 40 Prozent bedeutet die Diagnose binnen 20 Jahren den Tod.

Der Lupus ist ein Autoimmunleiden. Das fehlgesteuerte Immunsystem greift körpereigene Strukturen an, neben den Gelenken auch Nieren, Herz und Haut. Manchmal kann Cortison diesen Prozeß unterdrücken. Wenn es versagt, muß ein Zellgift eingesetzt werden, das sonst nur bei Krebsleiden verwendet wird – mit erheblichen Nebenwirkungen.

Euler und seine Mitarbeiter haben seit 17 Jahren ein neues Behandlungsprinzip entwickelt, das auf dem kompletten Austausch des Blutplasmas und anschließender hochdosierter Behandlung mit Zellgiften für ein halbes Jahr basiert. Bei 21 Patienten, die allesamt zu den schwersten Fällen zählen, hat Euler dieses sogenannte Kieler Protokoll mittlerweile eingesetzt. Zwei Drittel davon führen seither ein Leben ohne Therapie und Krankheit, drei schon seit zehn Jahren.

Das sind sehr deutliche Hinweise für einen Behandlungserfolg. Allerdings gibt es auch zwei Schönheitsfehler: Eine ähnliche, in entscheidenden Punkten jedoch abgeänderte Version des Kieler Protokolls wurde früher an mehreren Universitätskliniken getestet – jedoch ohne durchschlagenden Erfolg. Und zu den jetzigen Patienten fehlt eine Kontrollgruppe, die den Verlauf mit den bisherigen Behandlungsmethoden deutlich macht.

„Unseriös“

Aber Hartwig Euler will keinem seiner Patienten die jetzige, für ihn bestmögliche Behandlung vorenthalten, für die übrigens nur die schwersten Lupus-Fälle – um die 15 Prozent – in Frage kommen. Übernommen hat den Kieler Ansatz noch keine Klinik, von deutschen Kollegen fallen Worte wie „bedenklich“ oder „unseriös“. Um den mühseligen Weg der Debatte seiner Ergebnisse auf Fachkongressen und in Spezialzeitschriften zu beschleunigen, hat sich Euler auf eine Internet-Debatte mit der Lupus Foundation of America eingelassen. Auch auf diesem Forum hielten viele Diskutanten das Ergebnis wohl mehr oder minder für Zufall, so daß Euler ihnen entnervt nationalistische Sturheit vorwarf, mit der sie sich in einem Elfenbeinturm verschanzen. „Die Debatte scheint jetzt jedoch ganz langsam ein wenig zu schwenken“, freut er sich mittlerweile.

Wie auch immer: Das Ergebnis wird weit über den Lupus hinaus Bedeutung haben. Wenn sich Eulers Ansatz bestätigt, dann kann er vielleicht auch auf andere Autoimmunleiden übertragen werden – von weiteren Rheumaformen bis hin zur multiplen Sklerose. Schon deshalb ist eine wissenschaftliche Debatte so wichtig, in der nicht Konservativismus das Hauptmotiv ist.

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