Neue Arzneimittel wecken jetzt große Hoffnungen bei Patienten und Neurologen
Migräne: Bald bessere Behandlung?
Aber nicht jede Substanz hilft immer – Ausprobieren ist notwendig – Etliche Probleme bleiben

VON MICHAEL SIMM

„Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge Migräne. Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man keine hat.“ Unter diesem Vorurteil, das Erich Kästner in seinem Buch „Pünktchen und Anton“ verewigt hat, leiden Betroffene noch heute. Weil sie keinen Gipsverband vorweisen können, Attacken scheinbar aus dem Nichts kommen und weil Frauen dreimal häufiger über die grausamen Schmerzen klagen als Männer, werden Migräniker noch immer als Hysteriker und Schwächlinge abgestempelt.

Dabei zeigt die Statistik ein ganz anderes Bild: Zwar berichten 96 Prozent aller Betroffenen über nachlassende Arbeitskraft; jeder siebte ist ans Bett gefesselt, und jeder 17. muß sich regelmäßig krankschreiben lassen. Doch daß die Attacken weitaus häufiger am Wochenende auftreten, spricht gegen die Mär von der faulen Ausrede. Der Leidensdruck und die Behinderungen betreffen die Freizeit weitaus stärker als die Arbeitszeit.

Per Selbstanalyse wollte Sigmund Freud den Ursachen seiner ständig wiederkehrenden, pulsierenden Kopfschmerzen auf die Schliche kommen. Charles Darwin, dem Vater der Evolutionslehre, waren Migräneattacken ein ständiger Begleiter auf seinen Exkursionen. Und in der Bibel ist nachzulesen, daß Saulus auf dem Weg nach Damaskus Lichterscheinungen wahrnahm, anschließend drei Tage krank war und dabei weder sehen noch essen, noch trinken konnte – „auch das vermutlich ein Fall von Migräne“, interpretiert der Kopfschmerzspezialist Hartmut Göbel, Oberarzt für Neurologie der Universtiät Kiel, Apostelgeschichte und Korintherbrief.

Zickzacklinien

Neben den starken, meist nur auf einer Seite des Kopfes auftretenden Schmerzen zählen auch Übelkeit, Schwindel und Erbrechen sowie eine Überempfindlichkeit gegen Licht und Geräusche zu den häufigen Krankheitszeichen. Jeder zehnte erlebt eine etwa halbstündige „Vorwarnphase“, die Aura, mit Flecken oder Zickzacklinien auf einer Seite des Gesichtsfeldes, merkwürdigen Gerüchen oder Sprechstörungen.

Unter 5000 Deutschen, die Göbel befragt hat, mußte jeder neunte Migräneattacken schon am eigenen Leib erfahren, darunter fast dreimal so viele Frauen wie Männer. Die Migräne wäre demnach die häufigste schwere neurologische Erkrankung überhaupt. Im Unterschied zu Saulus aber könnte heute den meisten Gequälten geholfen werden, wenn man sie richtig behandeln würde.

Denn 2000 Jahre nachdem der mittlerweile zum Apostel Paulus Bekehrte Gott vergebens bat, ihn von seinem Leiden zu befreien, versprechen eine Reihe neuer Arzneimittel schnelle Schmerzlinderung für bis zu 80 Prozent der Patienten. Gute Nachrichten verbreiteten Forscher und Pharmavertreter im Sommer auf dem 8. Kongreß der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft in Amsterdam, später folgten weitere frohe Botschaften aus New York von einem Treffen der amerikanischen Gesellschaft für die Studie des Kopfwehs.

Diverse Pharmahersteller haben neue Arzneimittel bereits eingeführt oder stehen kurz davor. Und mindestens ein halbes Dutzend US-Firmen arbeitet derzeit an neuen Migränemitteln.

Bisher standen neben dem relativ teueren Sumatriptin vorwiegend Schmerzmittel wie Paracetamol, Acetylsalicylsäure („Aspirin“) und Ergotaminpräparate zur Verfügung. Welche Patienten von welchen Arzneien am meisten profitieren, müssen Ärzte noch immer durch Versuch und Irrtum herausfinden – wenn eine Substanz keine Erleichterung bringt, hilft vielleicht die nächste. Nebenwirkungen auf Magen, Herz und Niere können besonders bei häufigem Gebrauch in hohen Dosen auftreten und die Auswahl weiter einschränken.

„Eine Revolution in der Migränetherapie“ nennt deshalb Christoph Diener, Direktor der Neurologischen Universitätsklinik in Essen, die neuen Medikamente. Sie binden fast ausschließlich an den Empfangsstationen (Rezeptoren) für den Botenstoff Serotonin. Außerdem verengen sie die bei Migräneattacken stark erweiterten Blutgefäße unter der Schädeldecke und behindern die Freisetzung von Signalsubstanzen (Neuropeptiden) aus dem gereizten Trigeminus-Nerv.

Allerdings befürchtet Diener, daß auch die neuen Substanzen alte Probleme nicht vollständig lösen können, nämlich das Wiederauftreten von Kopfschmerzen nach erfolgreicher Behandlung und ein Gewöhnungspotential, welches durch die Angst der Patienten vor der nächsten Attacke gefördert wird.

Abseits der teuren Neuentwicklungen verfolgt ein weiterer prominenter Migräneforscher, Jean Schoenen von der Neurologischen Abteilung der belgischen Universität Liège, ebenfalls eine heiße Spur: Er fand in einer kleinen Studie an 50 Patienten, daß tägliche Gaben von 0,4 Gramm Vitamin B2 (Riboflavin) nach drei Monaten die Anzahl und Schwere von Migräneattacken halbierten – kein perfektes Ergebnis zwar, dafür aber billig und praktisch ohne Nebenwirkungen.

„Über all den Fortschritten bei der Behandlung hat man vergessen, sich um die Verhinderung der Krankheit zu kümmern“, bemängelt Schoenen. Denn die Ursache des Leidens ist keineswegs geklärt. Einen wichtigen Hinweis lieferten kürzlich niederländische Forscher um Michel Ferrari an der Universität Leiden. Bei der Erbgutanalyse von 60 Patienten aus fünf Familien, in denen eine seltene Form der Migräne gehäuft auftrat, fanden sie einen Gendefekt, der zur Herstellung eines fehlerhaften Membraneiweißes führt.

Vermutlich wird dadurch die Fähigkeit von Nervenzellen gestört, Signale zu verarbeiten. Allerdings warnt Ferrari vor voreiligen Schlüssen: „Das Schicksal liegt nicht in den Genen, und auch wenn einige Patienten ein erhöhtes Migränerisiko haben, spielen Umwelteinflüsse als Auslöser eine wichtige Rolle.“

„Zu mir kommen Frauen, denen hat ein Zahnarzt die Plomben entfernt, ein Orthopäde die Halbwirbel eingerenkt und ein Chirurg die Eierstöcke entfernt“, schimpft Astrid Gendolla, Fachärztin an der Neurologischen Universitätsklinik Essen über ihre Kollegen: Die eigentlich naheliegende Ursache der immer wiederkehrenden Kopfschmerzen – nämlich eine Migräne – hatten die Mediziner jedoch übersehen. Mit ihrer Kritik ist Gendolla in bester Gesellschaft.

Speziell die Orthopäden neigten dazu, „jede Krankheit außer Aids“ auf die Halswirbelsäule zurückzuführen, erregt sich auch Christoph Diener. Nur ein Viertel aller Migränekranken wird vom Arzt richtig erkannt, fand der Kieler Neurologe Göbel in einer großen Studie heraus. Daß viele Betroffene den Glauben an die Medizin längst verloren haben, läßt sich auch an den 38 Prozent aller Migräniker ablesen, die in der gleichen Umfrage angaben, gar nicht erst zum Arzt zu gehen.

Weitere Informationen: Hartmut Göbel: Kopfschmerzen – Leiden, die man nicht hinnehmen muß, Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 1994, ISBN 3-540-57897-8, 34,80 Mark.

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