An seelischen Krankheiten leiden in der Bundesrepublik Millionen Menschen, aber nur ein Viertel von ihnen wird gut versorgt
Depression: Der Weg zur richtigen Behandlung ist viel zu weit
Nach Ansicht von Fachleuten werden die geeigneten Arzneimittel noch zu selten eingesetzt – Johanniskraut als guter Ausweg?

VON DIETER SCHWAB

Wer psychisch krank wird, der muß nicht nur mit plötzlichen Veränderungen seiner Persönlichkeit fertigwerden. Noch immer gelten solche Leiden bei Verwandten und Freunden als Makel oder Versagen, und noch immer ist der Weg zur Hilfe viel zu lang.

Während einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie in Nürnberg faßte der Psychiater Professor Hans-Jürgen Möller von der Universität München diese allgemeine Hilflosigkeit in Zahlen: Etwa zehn bis 15 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung erkranken im Lauf ihres Lebens an einer Depression. Doch nur jeder zweite davon findet den Weg zum Arzt, und nicht einmal ein Viertel geht mit einem geeigneten Medikament nach Hause.

Dabei ist durchaus umstritten, ob die Einnahme eines sogenannten Antidepressivums allein schon die bestmögliche Therapie dieser psychischen Erkrankung ist: Möller setzt sehr auf diese Medikamente und spricht von einem „romantischen Verhältnis“ zur Psychotherapie. Eine psychische Störung sind für ihn „Veränderungen im Gehirn“, dessen Stoffwechsel sich durch die Gabe bestimmter Substanzen zum Positiven beeinflussen läßt. Nur bei einem Teil der Patienten hält er den Gang zum Therapeuten für notwendig.

Einen etwas anderen Akzent setzt sein Frankfurter Kollege Jürgen Fritze: „Die Psychotherapie nimmt eine zunehmend bedeutendere Rolle ein. Aber eine zusätzliche antidepressive Behandlung steigert ihren Erfolg.“ Geeignete Hilfe jedenfalls kann die Zahl der Selbstmorde deutlich verringern: Etwa vier von fünf Suiziden gehen mit einer Depression einher.

In den fünfziger Jahren

Bei den Antidepressiva handelt es sich um eine Stoffgruppe, die schon in den fünfziger Jahren entdeckt wurde. Sie lösten später bei Behandlung psychischer Leiden die sogenannten Benzodiazepame ab, deren bekanntester Vertreter das Valium ist. Diese Medikamente gelten derzeit nicht mehr als die beste Therapie bei Depressionen – und haben zudem einen gravierenden Nachteil: Sie machen bei längerer Einnahme süchtig. Depressive Menschen aber brauchen eine Behandlung über mehrere Wochen, und möglicherweise muß dann über Monate hinweg einem Rückfall vorgebeugt werden.

Freilich: Die jetzigen Antidepressiva machen zwar nicht abhängig, dennoch steht eine lange Reihe von Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel. Das fängt bei Mundtrockenheit und Sehstörungen an und hört bei einer erhöhten Herzfrequenz noch lange nicht auf; sie können bis zu 30 Prozent der Patienten betreffen. „Die Liste dieser unerwünschten Begleiterscheinungen ist erheblich“, gesteht denn auch die Münchner Fachärztin Brigitta Bondy ein. Dennoch ist sie überzeugt, daß sich für jeden Patienten ein geeignetes Mittel findet.

In der Bundesrepublik ist ein Ausweg aus diesem Dilemma sehr beliebt, das Johanniskraut: Es wird in fast jedem dritten Fall verordnet. Jürgen Fritze, der das als eine „ganz besonders deutsche Tradition“ bezeichnet, ist nicht sicher, ob sich damit dem Problem der Unterbehandlung begegnen läßt: Die bisher gemachten Untersuchungen mit dem Wirkstoff aus der Heilpflanze sind zwar besonders bei einem leichten oder mittelschwer ausgeprägten Krankheitsbild positiv, umfassen jedoch nur einen Zeitraum von wenigen Wochen, kritisiert er. Außerdem kann das Johanniskraut Nebenwirkungen auf der Haut auslösen.

Ob die Betonung der medikamentösen Behandlung der richtige Weg aus der seelischen Krise ist, gehört durchaus zu den umstrittenen Fragen in der Medizin. Wenn es um die Selbstmordgefährdung depressiver Menschen geht, meint beispielsweise der Schweizer Psychiater Asmus Finzen, spielt nicht nur die richtige medikamentöse Behandlung eine zentrale Rolle, sondern auch die Qualität der psychotherapeutischen Begleitung. Und die Ärztin und Psychotherapeutin Barbara Alm vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim mahnt, daß sich mit Pillen allein das seelische Gleichgewicht oft nicht wiederherstellen läßt. Denn eine Depression, so ihre Sicht der Dinge, wird zwar auch durch biochemische Veränderungen im Gehirn ausgelöst. Doch ebenso finden sich Ursachen im Lebenslauf oder im sozialen Umfeld, denen durch Ansätze wie autogenes Training oder eben Psychotherapie begegnet werden muß.

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