Notwendige Schlüsselqualifikationen für die Zukunft wie Teamfähigkeit oder Flexibilität werden in den Unterrichtsstunden bis heute nicht vermittelt
In der Schule muß bloße Wissensanhäufung dem kreativen Lernen Platz machen
Es fehlt an schöpferischen Freiräumen – Grundlegende Mängel zwar theoretisch erkannt, aber in der Praxis keineswegs beseitigt – Österreich ist vorbildlich

VON THILO CASTNER

Das Unbehagen am bestehenden Schulsystem ist in letzter Zeit wieder einmal lauter geworden. Kritiker wie Hartmut von Hentig betonen, daß die Schule als größte kulturelle Veranstaltung den Anforderungen der sich wandelnden Gesellschaft nicht mehr gerecht werde. Sie entlasse die jungen Menschen zwar „kenntnisreich, aber erfahrungsarm, erwartungsvoll, aber orientierungslos, ungebunden, aber auch unselbständig – und einen erschreckend hohen Anteil unter ihnen ohne jede Beziehung zum Gemeinwohl, entfremdet und feindlich bis zur Barbarei“. Die bis zu 20 Jahren dauernde Ausbildung leide unter einem eklatanten Mißverhältnis von Aufwand und Ertrag.

Ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler steht den Unterrichtsangeboten überaus ablehnend gegenüber und hat zu ihren Lehrkräften wenig Vertrauen, wie sowohl eine Studie Ende der 80er Jahre als auch die Untersuchung für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund vom Frühjahr 1995 belegen. Schule sei langweilig, uninteressant, gehe nicht auf die Bedürfnisse der Jugendlichen ein, vermittle vieles, was für das spätere Leben ohne Wert sei – so der Tenor der Schülermeinungen. Und auch zahlreiche Vertreter der Wirtschaft bemängeln, die Schulabsolventen seien zuwenig auf das Berufsleben vorbereitet.

Die Ursache für die verlorengegangene Attraktivität der Institution Schule sieht der Soziologe Rudolf Egger zu Recht in der Art und Weise, wie überwiegend unterrichtet wird. Die Schule verstehe sich nach wie vor primär als Wissensvermittlerin. Für eine Gesellschaft, in der sich der Wissenstand innerhalb von nur fünf bis zehn Jahren verdoppele, sei bloße Wissensanhäufung überholt. Die angemessene Vorbereitung auf die Zukunft liege in der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen wie Selbständigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Flexibilität, Teamfähigkeit und Mündigkeit. Um diese Ziele zu erreichen, müsse die Schule größere schöpferische Freiräume erhalten und kreatives Lernen ermöglichen.

Wie Kreativität im Unterricht realisiert werden kann, verdeutlicht sehr überzeugend ein Projekt, das von der Katholischen Schüler/Innen-Jugend Österreichs (KSJÖ) 1995 angeregt wurde und landesweit auf große Resonanz gestoßen ist. Denn hier ist es in zahlreichen Schulen der Republik gelungen, junge Leute zu selbstbestimmten Akti vitäten zu animieren, die zu erstaunlichen Ergebnissen geführt haben.

So hat eine Klasse in Judenburg ein eigens Schulradio aufgebaut, das täglich von 7.30 bis 8.00 Uhr und von 9.40 bis 9.55 Uhr Musik, Interviews und Kommentare ausstrahlt; Schülerinnen und Schüler in Mödling verschönerten ihr Schulgebäude mit Graffiti; drei siebte Klassen in Leibnitz gestalteten eine Fotodokumentation über zeitgenössische Architektur; in Zwettl wurde ein 2 mal 2,80 Meter großes Buch entworfen, in das die Geschichte der Schule, in gotischer Schrift und mit Ornamenten verziert, eingetragen wird. Über 100 kreative Modelle sind schon registriert. Das Angebot, sich dem Projekt anzuschließen, steht allen Schulen unseres Nachbarlandes offen.

In einer Denkschrift der nordrhein-westfälischen Bildungskommission wird zwar theoretisch darauf hingewiesen, daß die Schule auf den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel am besten dann reagieren wird, „wenn Lehrerinnen und Lehrer ihre Tätigkeit innovativ verstehen, wenn sie Lern- und Erziehungsprozesse kreativ planen und arrangieren“. Es scheint, daß das österreichische Schulsystem in der Praxis dem deutschen bereits ein erhebliches Stück voraus ist.

Rudolf Egger: Freiräume mit Unterricht – Unterschätzt und überfordert? Kreativität als Erfahrungsquelle im schulischen Alltag. Innsbruck-Wien 1996, 39,80 Mark.

KSJÖ: Kreativität und Schule. Ein Projekt mit Zukunft. Innsbruck-Wien 1996, 34 Mark.

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