Deutsche Großschreibung
ist einzigartig

Ein Forschungsprojekt suchte ohne Ergebnis nach den Ursachen dieser Sonderentwicklung

VON ROLF H.SIMEN

Alles, was du anfassen kannst, kannst du auch groß schreiben, soll ein kluger Großvater einmal seinem Enkel erklärt haben. Und der schrieb darauf prompt: der heiße ofen. Doch nicht nur weil sich Hauptwörter nicht immer anfassen lassen, steht fast jeder Deutsche mit der Klein- und Großschreibung mehr oder weniger auf dem Kriegsfuß. Deren Geschichte allerdings läßt bis heute das Rätsel ungelöst, wie sich diese beispiellose deutsche Besonderheit überhaupt entwickeln konnte.

In einem gemeinsamen Projekt befaßten sich Sprachforscher um Professor Rolf Bergmann an der Universität Bamberg und um Professor Dieter Nerius an der Universität Rostock mit dieser Geschichte, seit 1990 gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Im Brennpunkt der wissenschaftlichen Neugier steht dabei, was Nerius und Privatdozentin Dr. Petra Ewald nun in der Erstausgabe von Traditio et Innovatio, der Halbjahres-Zeitschrift der Universität Rostock, so beschreiben: "Der Gebrauch von Großbuchstaben im Deutschen weicht bekanntlich von dem in allen vergleichbaren Sprachen darin ab, daß nicht nur Überschriften, Satzanfänge, Eigennamen, bestimmte Ehrenbezeichnungen und Anredepronomina mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben werden, sondern auch alle Substantive."

Alte Wurzeln

Doch die Wurzeln sind älter, wie ihr Übersichtsbeitrag erkennen läßt. Schon zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert wurden Buchstaben der aus der lateinischen Antike überlieferten - nur aus Großbuchstaben bestehenden - Majuskelschrift dafür gebraucht, besondere Dinge aus dem Einerlei der damals überall in Europa üblichen Schriften aus Kleinbuchstaben hervorzuheben.

Um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert setzte dann eine Sonderentwicklung des Deutschen ein: Die Substantivgroßschreibung. Diese Großschreibung von Hauptwörtern gab es kurzzeitig auch in anderen Sprachen - im Französischen, Englischen, Niederländischen und Litauischen -, hatte aber keinen längeren Bestand, sofern man davon einige skandinavische Sprachen ausnimmt. So gab es diese Großschreibung in Dänemark noch bis 1948.

Die Forscher durchsuchten umfangreiches gedrucktes Textmaterial nach der Art seiner Großschreibung und überprüften zugleich, was dazu damals jeweils in Grammatiken und Rechtschreibungslehren nachzulesen war. Die Beziehungen zwischen Majuskelgebrauch und orthographischer Regelung. Die wissenschaftliche Bewertung erfolgte dann in 30-Jahres-Schritten von 1500 bis 1710, eine regionale Zuordnung zugleich zu sechs Bereichen.

Dabei steht Ostoberdeutsch für den Sprachbereich von Regensburg bis Wien, Westoberdeutsch ebenso stichwortartig für Augsburg, Basel, Straßburg, Nordoberdeutsch für Bamberg, Nürnberg, Ostmitteldeutsch für Leipzig, Erfurt, Wittenberg, Westmitteldeutsch für Mainz, Köln, Frankfurt und schließlich Nieder-Norddeutsch für Emden, Lübeck und Rostock.

Aus 145 Drucken wurden dabei Textanalysen jeweils 4000 Worte langer Abschnitte vorgenommen - sowohl Beispiele aus der Kirchen- als auch der Geschäfts- und Umgangssprache. Wie zu erwarten, spiegelte sich darin eine reichlich gemischte Entwicklung, in der allerdings gewisse Trends auszumachen waren. So gab es zum Beispiel um 1500 unter den Personenbezeichnungen etwa zehn Prozent groß geschriebene, doch gegen 1590 bereits 90 Prozent.

Ohne Regeln

Ab 1680 werden im gesamten deutschen Sprachraum 90 Prozent der Hauptwörter groß geschrieben; nur vereinzelt werden sie noch bis 1710 klein geschrieben, doch gilt nach Ewald und Nerius: Die Großschreibung hat sich bis 1700 durchgesetzt; und damit vor rund drei Jahrhunderten. Die Grammatiker übrigens haben offenbar niemals Regeln vorgegeben, sondern mit Regeln auf die jeweiligen Gegebenheiten reagiert - und das offenbar oft mit erheblicher Verspätung.

Warum sich die Großschreibung gerade in Deutschland entwickelte und warum sie sich ausgerechnet auf Hauptwörter konzentrierte, muß aber weiterhin mit einem Fragezeichen ausgestattet werden. Die bisherige Suche nach Antworten sei nicht überzeugend, schreiben Ewald und Nerius, so etwa auch der Versuch einer ästhetischen Deutung. Das Rätsel, das man typisch deutsch zu nennen versucht ist, besteht also weiterhin.

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