"Breite Diskussion ermöglichen"
Entwurf einer neuen „Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung veröffentlicht

VON KLAUS-PETER GÖRLITZER

Der Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) hat den Entwurf einer neuen „Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung“ veröffentlicht. „Angesichts der herausragenden gesellschaftlichen Bedeutung des Themas“, versprach Vorstandsmitglied Professor Eggert Beleites, solle nun „eine breite Diskussion ermöglicht“ werden. Im Herbst will der BÄK-Vorstand das Papier endgültig beschließen.

Würde die Richtlinie, die alle Ärzte Deutschlands bindet, beschlossen wie jetzt als Entwurf vorgelegt, müßte das Krankenhauspersonal künftig bei der „Sterbebegleitung“ umdenken. Denn erstmals legitimiert der neue Verhaltenskodex auch Verzicht auf und Abbruch von medizinischer Behandlung bei Menschen, die sich überhaupt nicht im Sterbeprozeß befinden.

Abbruch zulässig

Wer sich im Wachkoma befindet, gilt zwar auch im BÄK-Papier als „Lebender“. Trotzdem heißt es darin, „ein Behandlungsabbruch lebenserhaltender Maßnahmen“ sei „zulässig, wenn dies dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht“. Praktisch bedeutet das: Ein Bewußtloser, von dem angenommen wird, daß er seinen Arzt bei Bewußtsein auffordern würde, er wünsche keine Behandlung mehr, soll künftig einen Anspruch auf die ärztliche Unterlassung haben; der Tod träte dann etwa durch Ersticken, Verdursten oder Verhungern ein.

Die Ausführung des „Behandlungsabbruchs“ wäre vom Arzt zu verantworten, im Krankenhausalltag dürfte das todbringende Tun oder Unterlassen aber meist von Schwestern oder Pflegern verlangt werden. Als wichtige Anhaltspunkte zur Ermittlung des „mutmaßlichen Willens“ soll der Arzt gemäß Richtlinie frühere schriftliche Äußerungen des Betroffenen zu Rate ziehen, außerdem eine von ihm benannte Vertrauensperson befragen oder die Meinung eines Betreuers einholen.

Unterlassungen

Auch bei als „unheilbar“ eingestuften, jedoch nicht sterbenden Patienten erlaubt der Text todbringende Unterlassungen. Richtlinientreue Ärzte können „lebensverlängernde Maßnahmen“ künftig abbrechen oder gar nicht erst aufnehmen. Voraussetzung für den von Medizinern gebahnten Weg ins Jenseits auch hier: die erklärte oder mutmaßliche Einwilligung des Betroffenen.

Ungeachtet dessen wird unheilbar Kranken bis zu ihrem Lebensende die sogenannte „Basishilfe“ zugesichert. Laut Richtlinientext sind dies: Zuwendung, Körperpflege, Schmerzlinderung, Freihalten der Atemwege, Flüssigkeitszufuhr und „natürliche Ernährung“. Dagegen fehlt im BÄK-Papier der Anspruch auf „künstliche Ernährung“, zu der medizinische Standardwerke auch die Ernährung via Magensonde rechnen.

Daß wegen der auffälligen Lücke im BÄK-Text das Verhungernlassen von Patienten künftig gerechtfertigt sein könnte, will Beleites mit einer eigenwilligen Argumentation ausgeschlossen wissen. Unter „natürlicher Ernährung“ verstehe der BÄK-Vorstand nämlich „die Zufuhr von Nahrung in den Magen“ und damit sehr wohl auch die Sondenkost. Obwohl diese Darstellung von der Fachliteratur abweicht, habe man keine Notwendigkeit gesehen, die eigene Position im Text ausdrücklich klarzustellen.

Die „breite Diskussion“ über den Richtlinienentwurf hat unterdessen begonnen. Der Dortmunder Professor für evangelische Theologie, Hans Grewel, sagte, die Medizin denke seit Jahren darüber nach, wie man sich schwerstgeschädigter Überlebender, etwa Komapatienten, entledigen könne. Hintergrund seien Kosten und Belastung, die von Ärzten, Pflegern und Angehörigen empfunden würden. „Wenn jetzt in eine solche Situation ein so schwammiges Papier der Bundesärztekammer hineinkommt“, warnt Grewel, „ist das eine direkte, vielleicht nicht beabsichtigte, aber in der Wirkung klare Ermutigung zum Töten.“

Die Gesundheitspolitikerin Monika Knoche (Bündnis 90/Die Grünen) erklärte, es gehöre „nicht zum ärztlichen Behandlungsauftrag, lebenserhaltende Maßnahmen bei Menschen abzubrechen, die sich überhaupt nicht im Sterbeprozeß befinden“. Und der CDU- Abgeordnete Hubert Hüppe forderte die Bonner Parlamentarier auf: „Fragen, bei denen es um Leben oder Tod geht, dürfen wir nicht mehr irgendwelchen Kommissionen überlassen.“ Vielmehr sei nun der Gesetzgeber gefragt.

Klärungsbedarf gibt es womöglich auch innerhalb der Bundesärztekammer, die Ende Mai in Eisenach ihren 100. Deutschen Ärztetag abhält. Inhaltlicher Schwerpunkt dabei: „Medizinethik in einer offenen Gesellschaft“. Noch vor zwei Jahren, im Juni 1995, hatten BÄK-Repräsentanten „Sterbehilfe“ bei Menschen, deren Tod gar nicht bevorsteht, eindeutig ausgeschlossen. „Ein Behandlungsabbruch oder -verzicht“, schrieb BÄK-Vizepräsident Professor Jörg-Dietrich Hoppe damals, „kann halbwegs guten Gewissens daher nur bei unheilbar Kranken im Sterbeprozeß in Erwägung gezogen werden.“ Außerdem sei zu befürchten, „daß betroffene Menschen sich von ihren Angehörigen bzw. Betreuern unter Druck gesetzt fühlen, die aktive Beendigung ihres Lebens wünschen zu sollen“, warnte Hoppe.

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