Liebe,
Plüsch und viele rote Rosen
Schnulzen-Fans pilgerten zur
ersten Schlager-Parade nach HamburgSamstag Nachmittag, 16.46 Uhr. Die alte S-Bahn
fährt am Bahnhof in Hamburg-Altona ein. Plötzlich kommt
Bewegung in die Schwüle des Zuges: Menschenmassen
drängen in den Wagen, es wird laut. Hossa,
Hossa, tönt es vom Ende des Abteils, und eine
Gruppe ausgelassener Kids versucht, sich mit einer
Polonaise durch die Fahrgäste zu schieben. Noch zwei
Stationen und fünf Minuten, dann steigt alles aus.
Bahnhof Reeperbahn. Man kommt kaum noch vorwärts, dafür
ist alles so schön bunt hier: Schlaghosen,
Glitzerhemden, Blumenröcke soweit das Auge reicht. Die
Masse drängt nach oben auf den Kiez zum
Festival der Liebe auf der Straße der
Liebe.
Rund 30 000 Schlagerfans erwarten
Michael Strokosch, Kay und Oliver Bätjer, die
Veranstalter von Deutschlands erstem
Open-air-Schlagermove, dem Pendant zur Love-Parade.
Vierzehn große Trucks wurden in 70er-Jahre-Discos
umgestaltet. Für drei Stunden beschallen die Boxen junge
und alte Schlagerfans auf der Strecke von der Reeperbahn
bis zum Hamburger Fischmarkt mit maximal 90 Dezibel.
Mit Rex Gildo und Hans Albers gegen
Gewalt und für die Liebe lautet das unausgesprochene
Motto. Am Spielbudenplatz stehen Wiebke, Maren und
Christiane. Die drei 20jährigen haben tief in Mutters
alter Kleiderkiste gekramt. Die Schlager machen
einfach viel mehr Stimmung als das eintönige
Techno-Gestampfe, ruft Wiebke und schaut lässig
durch ihre überdimensionale Sonnenbrille. Christiane
zupft noch rasch ihre Perücke im 70er-Jahre-Topfschnitt
zurecht, prüft den glitzernden Lippenstift dann
kann der Spaß beginnen.
Kuriose Gestalten
Die Stimmung ist bereits auf dem
Siedepunkt, als die ersten Wagen durch die Menge rollen.
Rund um den Love-in-Progress-Bus, ein alter
Postbus, der mit viel Blümchen, Plüsch und Kitsch
stilgerecht umgestaltet wurde, drängen sich kuriose
Gestalten. Hey ihr, Blumen für die Liebe,
ruft eine junge Frau mit falscher Lockenmähne und wirft
eine Handvoll Blüten vom Wagen in die Menge.
Als dann Hans Albers' Stimme über die
Straße schallt, gibt es kein Halten mehr: Auf der
Reeperbahn nachts um halb eins. . . Die
beiden Polizisten von der Davidswache summen leise mit
und schlecken gelassen am Straßenrand
Ahoi-Brause, die buntgekleidete Mädchen von
einem Truck in die Menge werfen.
Es gibt ohnehin nicht viel zu tun. Die
Schlagerfans sind doch alle friedlich, meint ein
Dreißigjähriger, der mit blonder Perücke und dunkler
Brille aussieht wie Heino. Der Schlager von einst
avanciert zum Kult und die Masse schiebt sich langsam
Richtung Hafen.
Am Rande der Veranstaltung versuchen
einige, schnell das große Geschäft zu machen. Mutter
und Sohn verkaufen kleine Melonenscheiben, an der
Straßenecke weiter vorne preisen ein paar Hippies für
drei Mark Limonade und Cola an. Das angesagte Getränk
ist zwar laut Veranstalter Himbeersirup mit Bananensaft
so süß wie die Klänge aus den Boxen. Den
meisten Blumenkindern ist aber doch der kräftige Schluck
aus der Holsten-Bier-Dose oder der
Sektflasche lieber.
Direkt am Straßenrand stehen Heidi und
Hannes Schnellsen: Hey, hey, Dschingis Khan. .
., brüllt die 54jährige begeistert und
schwenkt die Arme. Zusammen mit ihrem Mann will sie sich
an alte Zeiten erinnern. Nur die alten Kleider, die
Originale von damals, die passen nicht mehr die
trägt jetzt ihre Tochter, die auch irgendwo in der Menge
mitfeiert.
So vereint der erste Schlagermove alte
und junge Generationen friedlich für einige Stunden: Als
einer der schrillen Musikwagen einen alten Hit von
Hildegard Knef in neuer Version der Toten Hosen anstimmt,
singen Eltern gemeinsam mit ihren Kindern und lassen
lauthals die berühmten roten Rosen regnen.
Bis spät in die Nacht
Der Zug erreicht die
Fischauktionshalle. Für alle Heinos, Cindys und Berts
und Jürgen Drews geht hier die Party bis spät in die
Nacht weiter. Imitatoren der Schlagerstars werden dort
die 70er-Jünger unter den Blümchen- und
Kunstfaserkleidern ins Schwitzen bringen.
Was bleibt vom ersten Schlagermove sind
Unmengen Bierdosen, Konfetti und Pappbecher. Die
Kehrmaschinen schließen sich gleich dem letzten Truck
an. In einer halben Stunde muß die Straße wieder für
den Autoverkehr frei sein. Nur aus einer Pilsbar schallt
es unüberhörbar: Du bist nicht allein. . .
MARTINA HILDEBRAND
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