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© Nürnberger Nachrichten 1996

Atempause bei ständiger Belastung
Müttergenesungswerk wertete Fragebögen zur gesundheitlichen Situation der Kurteilnehmerinnen aus

STEIN – „Ich bin 37 Jahre alt, verheiratet und habe drei Kinder im Alter von 14, zwölf und sechs Jahren, lauter Wunschkinder. Vor einem Jahr zogen wir aus beruflichen Gründen um, und es gab große Probleme mit den Kindern: Aggressionen, schlechte Schulleistungen, sie weinten viel. Ich versuchte, alles aufzufangen. Das führte dazu, daß ich eine nervöse, schimpfende und völlig überforderte Mutter wurde. Als ich dann auch noch kreisrunden Haarausfall bekam, mußte etwas passieren.“

Die Schilderung ist kein Einzelfall, sondern typisch für die Situation der 1996 rund 45 000 Frauen, die an einer Kur des Müttergenesungswerkes teilnahmen. Um die Probleme und Bedürfnisse der Frauen zu erfahren und passende Kurleistungen anbieten zu können, erhalten sie alle einen Fragebogen zu
ihrer gesundheitlichen, persönlichen und sozialen Situation. Die Auswertung belegt, wie stark Mütter heute be- und überlastet sind.

An den Kuren nehmen überwiegend jüngere Mütter teil: 71 Prozent waren 1996 25 bis 39 Jahre alt, weitere 16 Prozent 40 bis 49 Jahre. Der Anteil der Alleinerziehenden an den Kurteilnehmerinnen ist mit 29 Prozent deutlich höher als der an der Gesamtbevölkerung, der 1995 15 Prozent betrug. Berufstätige Mütter sind in den Kuren mit 53 Prozent im Vergleich zum Bundesdurchschnitt (1995: 58 Prozent) unterrepräsentiert. 30 Prozent von ihnen sind vollzeitbeschäftigt, 45 Prozent teilzeitbeschäftigt, ein Viertel ist nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Die Frauen kommen mit einer Vielzahl gesundheitlicher Beschwerden zur Kur, für die überwiegend psychosomatische Störungen verantwortlich sind. 67 Prozent fühlen sich nervlich oder seelisch überbelastet, 52 Prozent haben Wirbelsäulen- oder Bandscheibenprobleme, 32 Prozent klagen über ständige Müdigkeit und Niedergeschlagenheit. 27 Prozent leiden an Kopfschmerzen oder Migräne, 24 Prozent an Erkrankungen der Atemwege, 22 Prozent an Herz-Kreislauf-Problemen. Je knapp ein Viertel nennt Schlafstörungen, Unruhe- oder Angstgefühle, Erschöpfung nach einem Schicksalsschlag.

Viele Mütter sind durch die Pflege und die Sorge um – oft chronisch – kranke Kinder belastet. 60 Prozent der Kinder, die an einer Mutter-Kind-Kur teilgenommen haben, leiden an Erkrankungen der Atemwege, 57 Prozent sind stark infektanfällig, 32 Prozent werden von Allergien und Hautkrankheiten geplagt.

Gegen psychosomatisch bedingte Beschwerden der Mütter verschreiben viele Ärzte Beruhigungs-, Schmerz- und Schlafmittel, deren regelmäßige Einnahme zu Abhängigkeit führen kann. Für viele Frauen bringt deshalb eine Kur die Chance, den Teufelskreis zu durchbrechen, den Zusammenhang zwischen Alltagsproblemen und Gesundheitsbeschwerden zu erkennen und die Voraussetzung für Veränderungen zu schaffen. Die Kur wirkt zwar nicht auf die familiäre und soziale Situation, kann aber Möglichkeiten zur Lebensbewältigung aufzeigen und motivieren, nach der Kur den Alltag in kleinen Schritten den eigenen Kräften anzupassen. ANDREA DOKTER

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