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© Nürnberger Nachrichten 1996

Kluft zwischen Anspruch
und Wirklichkeit

Immer mehr Firmen wollen Studenten mit Auslandserfahrung: Aber die meisten sind Nesthocker

Ihren ausländischen Studenten bietet die Universität Erlangen-Nürnberg regelmäßig Feste und andere Veranstaltungen. Umgekehrt finden relativ wenige deutsche Studenten den Weg an eine ausländische Hochschule.
Foto: Bernd Böhner


Die neue Freiheit, das Recht in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union leben und arbeiten zu können, kann nur richtig auskosten, wer sich früh damit vertraut macht: Daß sich Martin, der Erlanger Medizinstudent, eines Tages in Paris niederläßt und die Bayreuther Jura-Absolventin Corinna bei einer Anwaltskanzlei in London arbeitet, klingt für viele wie Zukunftsmusik. Doch beide sind auf dem richtigen Weg: Sie unterbrechen ihr Studium und schieben ein Jahr Auslandsstudium ein.

Auslandsaufenthalte im Studium verbessern auch die Chancen auf einen Arbeitsplatz hierzulande. Zu diesem Ergebnis kam vor kurzem eine Tagung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Gerade große internationale Firmen, so hieß es dort, forderten heute Auslandserfahrungen von Hochschulabsolventen.

Von Ingenieuren werden heute auch Sprachkenntnisse, Erfahrungen im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen und Offenheit gegenüber anderen Betrachtungsweisen erwartet. Bayer zum Beispiel stellt bereits drei Viertel seiner Naturwissenschaftler mit Auslandserfahrung ein. Der Volkswagen-Konzern betrachtet Auslandserfahrung als Zugangsvoraussetzung für seine Trainees.

Doch die Realität an den Hochschulen sieht anders aus: Noch immer blieben 94 Prozent der deutschen Studenten ausschließlich in Deutschland. Die meisten von ihnen lassen sich offenbar von dem notwendigen Papierkrieg abschrecken.

Nachweis zum Lebensunterhalt

Ein Beispiel ist die Aufenthaltserlaubnis, ausgestellt durch die Botschaften der EU-Mitgliedstaaten in Bonn. Voraussetzungen dafür sind wiederum die Einschreibung bei der gewünschten Hochschule im Ausland, eine Bestätigung, daß man über ausreichende Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verfügt, sowie ein Nachweis über bestehenden Krankenversicherungsschutz.

Obwohl die europäischen Universitäten ihre Zulassungsbedingungen sehr unterschiedlich handhaben - manche verlangen Eignungstests oder Interviews - müssen alle das jeweilige Abiturzeugnis anerkennen. Dafür sorgt ein Gesetz über die Gleichwertigkeit der Reifezeugnisse.

Schwierigkeiten bereitet mitunter die Vorlage der Bestätigung einer gesicherten Existenz. Die Einkünfte des Studenten, seien es Unterhaltszahlungen der Eltern, Stipendien, Auslands-Bafög oder Arbeitseinkünfte müssen so hoch sein, daß damit im betreffenden Studienland kein Anspruch auf Sozialhilfe besteht.

Ein Anspruch auf die in anderen Staaten an die eigenen Studenten gewährten Beihilfen besteht nicht. Dafür können deutsche Studierende unter Umständen Auslands-Bafög erhalten, wenn mindestens eine teilweise Anrechnung für das Inlandsstudium möglich ist oder die Ausbildung im Inland nicht durchführbar wäre. Das Auslandsstudium wird in der Regel ein Jahr lang gefördert, wobei seine Dauer seit neuestem auf die Förderungshöchstdauer angerechnet wird.

Studenten, die wegen des Einkommens ihrer Eltern keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Bafög im Inland haben, können für einen Studienaufenthalt im EU-Ausland möglicherweise ein Stipendium erhalten.

Auskünfte geben die Bafög-Ämter und der DAAD (Kennedyallee 50, 53175 Bonn). Bei weiteren Fragen berät der Bürgerberater der EU-Kommission, Zitelmannstraße 22, 53113 Bonn, Tel. 02 28/5 30 09 29.

Ein spezielles Angebot sind Stipendien im Rahmen des Austauschprogramms "Socrates". Fast 900 Millionen Mark stehen für 160 000 Stipendien zur Verfügung; 24 000 davon gehen an deutsche Studenten. Ansprechpartner ist das Akademische Auslandsamt der jeweiligen Universität.

Außerhalb von "Socrates" muß sich jedoch jeder, der im europäischen Ausland studiert, selbst um die Anerkennung seiner Studienleistungen kümmern. Abhilfe soll das europäische System zur Anerkennung von Studienleistungen (ECTS) bringen - leider erst als Modellprojekt auf dem Papier.

Der DAAD fordert daher von den Hochschulen mehr Beiträge zur Internationalität der Ausbildung. Leistungen der Abschlüsse aus anderen Ländern müßten in größerem Umfang und vor allem unkomplizierter anerkannt werden. Für die Daheimgebliebenen sollten mehr internationale Studiengänge in englischer Sprache angeboten werden.

In der Weltgesundheitsorganisation, den UN, bei der Weltbank und in der Europäischen Union sind nur wenige Deutsche beschäftigt, obwohl Deutschland zu den größten Beitragszahlern gehört. Der Grund dafür: fehlende Fremdsprachenkenntnisse und geringe Mobilität deutscher Absolventen.
dpa/M. H./S. F.

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