Lehrerausbildung soll
sich der Wirklichkeit öffnen
Zwei Dozenten des Nürnberger Lehrstuhls
für Schulpädagogik ergänzen die hehre Theorie durch
spezielle SeminareVON LOTHAR
HOJA
Unsere Studenten gehen davon aus, daß sie
an eine Schule kommen und die Schüler hängen an ihren
Lippen und lechzen danach, von ihnen die neuesten
Lerninhalte präsentiert zu bekommen, ist die
Erfahrung von Norbert Autenrieth und Dieter Poschardt vom
Lehrstuhl für Schulpädagogik an der
Erziehungswissenschaftlichen Fakultät (EWF) in
Nürnberg.
Jeder erfahrene Lehrer weiß: In aller
Regel ist diese Vorstellung eine blanke Illusion
doch das müssen die angehenden Pädagogen erst
schmerzlich erleben während ihrer Praktika an
einer Schule, oft erst beim Referendariat, spätestens im
Lehreralltag.
Denn die Ausbildung an der
Universität, so Autenrieth und Poschardt, basiert
auf der hehren pädagogischen Theorie und hat zuwenig die
zum Teil schmuddelige Wirklichkeit an den Schulen im
Auge. Die beiden Schulpädagogik-Dozenten haben
dieses Defizit nicht nur klar erkannt, sie wollen es auch
zumindest ein bißchen beheben.
Viele Störfaktoren
Mittel dazu sind freiwillige Seminare,
in denen die Studenten so früh wie möglich lernen
sollen, daß der schulische Unterricht eben nicht nur von
Normalität, sondern auch von Störvariablen geprägt
ist. Ein Beispiel dafür war zuletzt ein Seminar zu
einem Phänomen, das der naiven Vorstellung der Studenten
von hochinteressierten Schülern am deutlichsten
widerspricht: Schulschwänzen.
Das Seminar bestand vor allem darin,
daß die Studenten in Gruppenarbeit, Interviews und
Fragebögen entwickelten, mit denen sie dann die
verschiedensten Beteiligten löcherten:
Schulleiter, Jugendamt, Polizei, Horterzieherinnen,
Sozialarbeiter und nicht zuletzt schwänzende
Schüler selbst.
Die Ergebnisse lassen sich auf zwei
getrennten Ebenen betrachten: Zum einen sind Autenrieth
und Poschardt überzeugt, daß die 30 Seminarteilnehmer
einen wesentlichen Schritt aus dem pädagogischen
Elfenbeinturm hinaus gekommen sind. Zum anderen kam eine
Fülle von Fakten zum Thema Schulschwänzen an sich
zusammen.
Demnach ist das unerlaubte
Fernbleiben vom Unterricht ein weitaus häufigeres
Phänomen als selbst in Fachkreisen bekannt: Denn als
Schwänzen zählt beileibe nicht nur, wenn ein Schüler
tagelang auf Tauchstation geht. Schwänzen ist
genaugenommen auch, wenn sich Schüler in bestimmten
Unterrichtsstunden auf der Toilette oder in den Gängen
herumdrücken, zum Beispiel mit der Begründung:
Mir ist schlecht.
Und das ist in vielen Fällen noch
nicht einmal so sehr gelogen. Denn in einem Fragebogen an
die Schüler entschieden sich die meisten für die
Aussagen: Ich mag das Unterrichtsfach nicht,
Ich mag den Lehrer nicht, Meine Freunde
üben Druck auf mich aus, Ich habe häusliche
Probleme alles Gründe, die bekanntlich
durchaus auf den Magen schlagen können.
Das Seminar beleuchtete auch das
relativ breite Spektrum an Sanktionsmaßnahmen, das einem
Schulleiter zur Verfügung steht. Es reicht von
Nacharbeit am Nachmittag über einen Verweis bis hin zur
Zwangsvorführung durch den sogenannten
Schulvorführer oder gar zum Bußgeldbescheid an
die Eltern, allerdings nur bei Schülern unter 14 Jahren.
Schulschwänzer über 14 müssen im
Ernstfall bis zu zehn Mark pro Fehltag selbst berappen.
Falls sie das nicht können oder wollen, müssen sie
gemeinnützige Arbeit, zum Beispiel in sozialen
Einrichtungen oder im Tiergarten leisten.
Wichtige Faktoren beim Schulschwänzen
sind offensichtlich auch kulturelle Besonderheiten: In
verschiedenen Ländern wird dem Schulbesuch der Kinder
weniger Bedeutung zugemessen als hierzulande. Ein
bißchen lesen und schreiben reicht doch, ansonsten
sollen die Größeren lieber auf ihre kleinen Geschwister
aufpassen oder arbeiten, so das Motto.
In manchen Fällen steckt tatsächlich
materielle Not dahinter, wenn Eltern ihre Kinder am
Schulbesuch hindern. Und spätestens dann sind die Lehrer
mit der Tatsache konfrontiert, die Autenrieth und
Poschardt in ihren Seminaren schon den Studenten
vermitteln wollen: Schule ist ein bürokratisches
System und oft genug steht dieses System in
krassem Widerspruch zur realen Lebenswelt der
Schüler.
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