Psychologen
zweifeln:
Ist der Ödipus-Komplex nur
ein Mythos?
Gibt es das überhaupt,
was seit Anfang dieses Jahrhunderts Psychoanalytikern als
wichtiges, ja zentrales Element bei der Erklärung
neurotischer Störungen gedient hat: Den Ödipuskomplex?
Neue Erhebungsbefunde an Kindern und Eltern haben diesen
Stützpfeiler der vor 100 Jahren von Sigmund Freud
begründeten psychotherapeutischen Theorie und Technik
ins Wanken gebracht. Sie schüren auch schon vorher
geäußerte Zweifel, ob Kinder tatsächlich eine
Entwicklungsphase durchlaufen, in der sich die Jungen in
die Mutter und die Mädchen in den Vater verlieben.
Die Psychologen Werner
Greve und Jeannette Roos berichten über ihre Befunde in
der Zeitschrift "Psychologie heute" (Weinheim).
Sie haben darüber auch ein Buch vorgelegt: "Der
Untergang des Ödypuskomplexes. Argumente gegen einen
Mythos" (Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen, 169 S.,
44,80 Mark). Die von Freud 1910 eingeführte
Bezeichnung Ödipuskomplex für die von ihm schon früher
beschriebenen kindlichen Neigungen knüpft an die
griechische Mythologie an: Ödipus tötete seinen Vater
und heiratete die eigene Mutter. 1897 hatte der damals
41jährige Wiener Arzt geschrieben, er habe die
Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den
Vater auch bei sich selbst gefunden und halte sie jetzt
für ein allgemeines Ereignis der frühen Kindheit.
Kernkomplex
der Neurosen
Von der Art der Lösung
der dramatischen und oft schmerzhaften familiären
Dreieckskonstellation hängt nach Freuds Auffassung
wesentlich ab, ob das Kind zum Neurotiker wird. Der
Ödipuskomplex ist nach klassischer Lesart der
Psychoanalyse der "Kernkomplex der Neurose".
Schüler und Dissidenten Freuds haben seinen Gedanken
zwar modifiziert, doch hat sich praktisch kein
psychoanalytischer Ansatz von der angenommenen
prinzipiellen Struktur, Universalität und besonderen
Rolle des Komplexes grundsätzlich distanziert. Ja,
dieser Teil der psychoanalytischen Theorie ist eher eines
der verbliebenen einigenden Bänder der diversen Schulen,
schreiben Greve und Roos.
Der Ödipuskomplex ist wie
kaum ein anderer Terminus der Psychologie in den
allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Allerdings wird
der Gedanke einer emotionsgeladenen Dreiecksbeziehung
meist nur verzerrt wiedergegeben. Etwa mit den Worten
"Ödipus _ Schnödipus! Hauptsache, mein Junge, du
hast deine Mutter ordentlich lieb!" Vicco von Bülow
(Loriot) gab 1987 seinem satirischen Film über eine
klassische Mutter-Sohn-Beziehung den Titel
"Ödipussi".
"Freud
irrte"
Greve und Roos sind anhand
der Ergebnisse ihrer empirischen Untersuchung an 130
Kindern und deren Eltern zu dem Urteil gelangt, daß die
Freudsche These in ihrem Kern "wahrscheinlich
schlicht falsch" ist. "Bye-bye Ödipus!"
haben sie ihren Zeitschriftbeitrag überschrieben. Die
Daten zeigten, daß der ganz überwiegende Teil der
untersuchten Kinder keinen der beiden Elternteile
emotional bevorzugt. Insbesondere zeigte sich bei
Mädchen und Jungen, daß weder der gegengeschlechtliche
Elternteil in besonderer Weise attraktiv noch der
gleichgeschlechtliche aggressiv oder aversiv wahrgenommen
wird. Und auch die befragten Eltern stellten derartiges
in keiner Altersgruppe fest. "Ödipale"
Konstellationen sind nach diesen Daten die absolute
Ausnahme.
Die beiden Psychologen
betonen, sie hätten ihre Erfassungsmethoden und das
Untersuchungsdesign bewußt auf mögliche Einwände von
Anhängern der Ödipustheorie abgestimmt, also ihr jede
Chance der Bewährung eingeräumt. Sie ziehen aus ihren
Befunden aber interessanterweise nicht den Schluß, daß
sie für die psychoanalytische Praxis erhebliche Folgen
haben müßten. Sie verweisen dazu auch auf den
prominenten Berner Therapieforscher Klaus Grawe, der
kürzlich äußerte, das Verhalten des Therapeuten, nicht
seine Theorie, erziele die Effekte einer Therapie. Sie
zitieren auch den amerikanischen Wissenschaftstheoretiker
Adolf Grünbaum: "Die Tatsache, daß Aspirin
Kopfschmerzen vertreibt, beweist natürlich nicht, daß
Aspirinmangel die Ursache dieser Schmerzen war."
Die Autoren fragen auch,
ob eine ödipale Konstellation nicht gerade dann, wenn
sie nicht bei jedem Menschen, sondern nur vereinzelt
auftritt, bedeutsame Folgen zeitigt. Könnte es nicht den
Versuch wert sein, bei einem Patienten Störungen zu
identifizieren, die auf Kindheitsepisoden der von Freud
beschriebenen Art zumindest teilweise zurückgehen? Das
ist es, was nach Auffassung der beiden Psychologen am
"Mythos Ödipuskomplex" zu retten ist.
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