Zurück zum Inhalt Medizin Rückenschule
wäre mindestens so wichtig wie die Rechtschreibreform Fast jeder Erwachsene leidet gelegentlich an Rückenschmerzen. Bei vielen sind die Beschwerden so weit fortgeschritten, daß die Kassen Milliarden für die Behandlung von Rücken- und Skelettkrankheiten ausgeben. Aber nur wenige Patienten erkennen, daß die Versäumnisse im Kindesalter den Grundstein für spätere Bandscheibenerkrankungen legen. Zu selten wird deshalb darüber nachgedacht, ob die eigenen Kinder auf unbequemen Schulbänken sitzen oder zu schwere Schulranzen schleppen. Aktuelle Untersuchungen zeigen, daß die wenigsten Schülerinnen und Schüler ihre Körpergröße entsprechende Tische und Stühle zur Verfügung haben. Nur jedes vierte Kind sitzt richtig Alarmierende Nachrichten kamen letzte Woche aus Münster. Laut einer Studie der dortigen Orthopädischen Universitätsklinik saßen weniger als ein Viertel der untersuchten Erst- bis Viertklässler an einer passenden Tisch/Stuhl-Kombination. Wie der Leiter der münsterschen Studie, Prof. Dr. Joerg Jerosch betont, zeigten die Ergebnisse eine deutliche Divergenz zwischen den orthopädischen Anforderungen und der Schulwirklichkeit. Zwar werden heute qualitativ hochwertige Schulmöbel in sechs Größenklassen angeboten, die alle Anforderungen an Ästhetik und Funktionalität erfüllen sollen. Doch gerade die für den Bau von Sitzmöbeln in Bildungseinrichtungen festgelegte DIN-Norm ISO 5970 stößt auf die Kritik des Oberarztes der Orthopädie der Westfälischen Wilhelms-Universität: Diese entsprechen einer Norm, die weitestgehend auf der vor einhundert Jahren als ideal angesehenen rechtwinkeligen Sitzhaltung fußt. Dort wird ausschließlich die Körpergröße, nicht aber die individuelle Körperproportion der Kinder berücksichtigt. Dazu komme, daß Tische und Stühle unterschiedlicher Größen willkürlich miteinander kombiniert werden, was die Forderung, daß in einer Klasse mindestens zwei unterschiedliche Möbelgrößen zur Verfügung stehen müssen, wieder zunichte mache. Sparzwänge und Traditionen Warum müssen Kinder trotz dieser Erkenntnisse viele Stunden täglich an unergonomischen und orthopädisch bedenklichen Arbeitsplätzen verbringen? Hersteller von Spezialmöbeln wissen eine Antwort: Ein Grund dafür sind die Sparzwänge der Kommunen, denn ein höhenverstellbarer Schülertisch mit schrägstellbarer Tischplatte in Kombination mit einem verstellbaren Stuhl ist mit rund 600,- Mark mehr als doppelt so teuer wie die Primitivausführung. Daß der Hersteller dafür aber 15 Jahre lang optimales Sitzen gewährleistet, zählt nicht. Angesichts der möglichen Folgeschäden und -kosten ist das eine vergleichsweise geringe Investition. Trotz dieser Argumente werden traditionell weiter Möbel angeschafft, die man nicht verstellen kann. Oft findet sich in einer Klasse nur eine Einheitsgröße, obwohl die Schülerinnen und Schüler Längenunterschiede von 20 Zentimetern und mehr aufweisen. Hauptsache, der Hang zur Einheitspolitik wird nicht in Frage gestellt von den Eltern übrigens auch nicht. Pädagogen müssen Maß nehmen Selbst wenn in einer Klasse unterschiedlich große Stühle vorhanden sind, erfolgt in den wenigsten Fällen eine Verteilung nach Körpermessungen oder ein Probesitzen, dabei läßt sich mit dem Körpergrößen-Maßband schnell und einfach die angemessene Gestühlsgröße ablesen. Deshalb auch hier die Forderung der münsterschen Orthopäden. Da zum derzeitigen Zeitpunkt weder eine Neufassung der DIN-Norm noch eine Anschaffung ergonomischer Schulmöbel zu erwarten sind, sollte das Lehrpersonal zumindest auf eine möglichst individuelle Anpassung der vorhandenen Normmöbel achten. Wie die Untersuchung erbrachte, bestehen bei vielen Lehrern erhebliche Informationsdefizite hinsichtlich dieser wichtigen Thematik. Und auch die Eltern werden ermahnt, im Interesse ihrer Kinder für einen ergonomisch gestalteten Hausaufgabenplatz zu sorgen. Prof. Dr. Thomas Müller, Obmann des Deutschen Instituts für Normung bei der Schulmöbelherstellung warnt seit langem: Das ganze System der Anpassung von Schulmöbeln ist gefährdet, wenn das Klassenzimmer nicht über eine ausreichende Anzahl von verschiedenen Größen von Tischen und Stühlen verfügt. Außerdem muß gewährleistet sein, daß seitens der Lehrer laufend das Größenwachstum der Schüler überprüft wird. Schon innerhalb eines Jahres kann ein Schulkind in der Pubertät in einem Jahr bis zu zwei Größenklassen überspringen. Nur Stillsitzen macht krumm Auch mit den besten Stühlen und Tischen ausgestattet, brauchen Kinder vor allem eines, nämlich Bewegung. An der Servatius-Grundschule in Bonn weiß man, daß viel Bewegung, auch während des Unterrichts, Haltungsschäden vorbeugt. Lehrerin Nieuwenhuizen richtet wechselnde Arbeitsgruppen ein, das bedeutet häufigen Plätzetausch und neue Blickrichtungen. Ihre Schützlinge müssen nicht mehr die ganze Stunde lang stillsitzen, wie es früher der Fall war. Ein Gang zur Toilette oder einmal etwas zu Trinken zu besorgen, ist durchaus erlaubt. Nieuwenhuizen: Manchmal sitzen wir während des Unterrichts auch auf dem Boden, bei bestimmten Projekten laufen die Kinder auch durch die Klasse. Da Kinder überhaupt nicht ruhig sitzen können, dürfen sie ruhig auch mal umgekehrt auf dem Stuhl sitzen, kippeln oder die Beine unterschlagen. Die Grundschullehrerin ist davon überzeugt, daß die richtigen Probleme erst anfangen, wenn die Kinder an die weiterführenden Schulen wechseln. Bei dreißig Schülern sei kein Raum mehr für Bewegung. Und wie sind die Kinder mit ihren älteren, aber höhenverstellbaren Stühlen zufrieden? Schön stabil da kann man solide mit kippeln, lautet die Antwort der Viertklässler. Aufgeregt werden auch die verschiedenen Sitzpositionen demonstriert. Ach ja, eine Armlehne wäre nicht schlecht, vielleicht auch ein Sessel zum Drehen! Alternative Sitzmöbel Ortswechsel: Grün, rot, gelb oder blau? Martin, ein neuer Schüler, steht noch etwas unschlüssig im Klassenraum, bevor er sich für die größte, die blaue Variante von Stuhl und Tisch entscheidet. Sehr vernünftig, meint Klassenlehrer Otto Wille, sehen doch die meisten Schüler nicht ein, daß ihre Schulmöbel mit ihnen wachsen sollten. Hier in Erkrath, an der Friedrich-Fröbel-Schule für Lernbehinderte, gibt es viele Kinder mit körperlichen Entwicklungsstörungen. Daher kommen neben dem nach Körpergröße abgestuften Mobiliar auch Gymnastikbälle als Sitzmöbel zum Einsatz, so zum Beispiel im motopädagogischen Bereich. Hier übt man, Bewegungsmuster zu verändern, die bereits bei den neun- bis elfjährigen Schülern durch stundenlanges Sitzen vor dem Fernseher und beengte Wohn- und Spielmöglichkeiten verkümmert sind. Gleichgewichtsprobleme und Koordinationsstörungen werden gezielt bearbeitet und die Stützfähigkeit und Beweglichkeit der Wirbelsäule verbessert. Aber auch für den normalen Unterricht hat die Schulleitung zusätzlich Sitzbälle angeschafft. Damit wird die Bewegungsabfuhr während des Sitzens ohne gefährliches Kippeln und lästiges Quietschen möglich. Außerdem sind diejenigen Schüler, die sich für jeweils eine Unterrichtseinheit den Ball ergattert haben, gezwungen, gerade zu sitzen und die Balance zu halten. Das Schreiben mit der Nase hat vollständig aufgehört. Um die Pädagogen für die Problematik des Sitzens zu sensibilisieren, veranstaltet die AOK regelmäßig Lehrerfortbildungen zu diesem Thema. In diesem einstündigen Kurs klärt Jojo Burgund, Diplom-Sportlehrer in Bonn, über die Risikofaktoren für Kinderrücken auf und gibt wertvolle Tips: Welcher Stuhl paßt zu welchem Kind? Haben die Füße vollständigen Bodenkontakt und stehen die Unterschenkel einigermaßen senkrecht? Können die Unterarme auf der Tischplatte waagerecht aufliegen? Auch Sportlehrer Burgund hält den Gymnastikball für eine gute Möglichkeit, Haltungsschäden vorzubeugen: Wir verstehen den Ball als Sitzalternative, die hilft, den Bewegungsdrang der Schüler auszugleichen. Um eine gesunde Beckenkippung zu erreichen, muß der Ball groß genug sein. Dazu teilen sich mehrere Kinder einen Ball, der farbig markiert wird. Wir gewöhnen die Kinder ganz langsam an den Ball. Die anfängliche Unruhe im Klassenzimmer legt sich bereits nach ein bis zwei Wochen. Mehr als eine Doppelstunde sollten die Schüler aber nicht auf dem Ball zubringen, denn die fehlende Rückenlehne macht sie als Dauersitz unbrauchbar. Wird die auch Fitball genannte Sitzalternative als solche gerade nicht benötigt, lassen sich viele Übungen damit durchführen. Fazit: Wenn die Schulmöbel nicht optimal sind, können Sitzalternativen, die richtige Zusammenstellung und Verteilung der Möbel sowie Bewegungsspiele für eine Entlastung der Wirbelsäule sorgen, denn: Was in jungen Jahren verbogen wird, ist später nur noch schwer zu korrigieren. Christian Hoben Zurück zum Inhalt Medizine-mail an die Redaktion |