Euro-Serie 2

Teil zwei:
Prüfsteine erlauben Spielraum
Mär von den starren Grenzen
Das Defizitkriterium besagt wenig über Stabilität einer Währung
VON KLAUS WONNEBERGER

NÜRNBERG – Wenn sich zwei oder mehr auf eine Wippe setzen, dann sollten sie annähernd gleichgewichtig sein, denn sonst stürzt mindestens einer von ihnen ab. Nicht anders ist es mit der Europäischen Währungsunion. Ähnlich wie die Kinder auf der Wippe, wollen auch die EU-Staaten in der Währungsunion eine Art Gleichgewicht halten, um ihr vereinbartes Ziel – einen stabilen Euro – zu erreichen. Je ähnlicher die finanz- und geldpolitischen Verhältnisse der Länder dabei sind, desto unkomplizierter lassen sich deren Währungen vereinen.

Im Vertrag von Maastricht haben die Staats- und Regierungschefs Bedingungen formuliert, unter denen annähernd Übereinstimmung zwischen den Mitgliedern des Euro-Clubs erreicht ist, die sogenannten Konvergenzkriterien. Doch in Deutschland tobt um die Interpretation ein erbittert geführter Streit, in dem Dichtung und Wahrheit eng beieinander liegen.

Denn die Architekten der Europäischen Währungsunion haben in ihrem Vertrag nicht etwa starre Grenzen festgelegt, wie auch Bundeskanzler Kohl und die Bundesbank immer wieder den Eindruck erweckten. Der Vertrag legt vielmehr ausdrücklich fest, daß aufgrund von Referenzwerten politisch entschieden wird, wer am Tisch der Euro-Länder Platz nehmen darf. Ausnahmesituationen, wie die deutsche Wiedervereinigung, werden neben den reinen Konvergenzkriterien ebenso berücksichtigt werden wie etwa die Leistungsbilanzen, die Lohnstückkosten oder andere Preisindices (Art. 109j des Vertrages).

Kriterien hochstilisiert

Doch davon ist in Deutschland in der öffentlichen Diskussion nur selten die Rede. Statt dessen haben Waigel & Co. ausgerechnet die zwei von den fünf Kriterien als angeblich unverrückbar hochstilisiert, die am meisten Interpretationsspielraum lassen und die am wenigsten mit der Frage zu tun haben, ob eine Währung schwach oder stark ist: der Schuldenstand eines Landes und das Haushaltsdefizit.

„Ökonomisch gesehen gibt es keine Begründung, warum diese fiskalischen Kriterien die Stabilität des Euro besonders fördern“, sagt selbst Ex-Bundesbankchef Helmut Schlesinger, ein Stabilitätsapostel in Reinkultur. Tatsächlich hat Belgien mit einer mehr als doppelt so hohen Verschuldung, als im Maastricht-Vertrag angepeilt, eine der stabilsten Währungen in Europa.

Politiker wie Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) oder Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber ficht das überhaupt nicht an. „3,0 heißt 3,0 und nicht 3,1 Prozent“, hat sich die CSU festgelegt und damit nach Ansicht der FDP ihren Finanzminister Theo Waigel in eine „selbstgebaute Falle gelockt“. Denn nach den Zahlen des Europäischen Währungsinstituts und der OECD wird Deutschland gar nicht in der Lage sein, im entscheidenden Jahr 1997 das Defizitkriterium zu schaffen.

Südklinikum mal fünf

Eine Reihe von Fachleuten, wie der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, bezweifeln, daß eine Währung weich wird, nur weil die Neuverschuldung statt 3,0 Prozent 3,1 Prozent beträgt. Zur Verdeutlichung: Bei einem gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukt von zuletzt 3539 Milliarden Mark macht eine um 0,1 Prozent höhere Neuverschuldung in der Praxis gerade einmal den Gegenwert von fünf Bauten in der Größenordnung des Nürnberger Südklinikums aus. Warum der Euro schwach werden soll, wenn Deutschland fünf Kliniken mehr finanzieren muß, als es die reine 3,0-Prozent-Marke erlauben würde, ist tatsächlich schwer nachzuvollziehen.

„Wir sollten diese Dezimalstellen-Diskussion sehr schnell beenden“, fordert denn auch Ifo-Chef Oppenländer die Politiker auf. Und auch Finanzleute, wie Bankenpräsident Martin Kohlhaussen oder der Chef-Volkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, halten eine Neuverschuldung von 3,2 oder 3,3 Prozent für durchaus ausreichend, einen stabilen Euro zu garantieren.

Die Diskussion um die 3,0-Prozent-Hürde verstellt den Blick darauf, daß die meisten EU-Länder bei den für die Währungsstabilität viel entscheidenderen Kriterien wie Zinsen, Wechselkurse und Inflation längst an einem Strang ziehen. Gerade bei der Preissteigerung ist Europa dem Ziel der Stabilitätsgemeinschaft schon sehr nahe gekommen.

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