Faulpelze gibt es nicht
Eine Kunst für sich: das Interpretieren von Arbeitszeugnissen
VON HARALD BAUMER

"Herr Müller war faul und aufsässig. Deswegen haben wir versucht, ihn auf dem schnellsten Wege wieder loszuwerden." Ein solcher Satz im Arbeitszeugnis wäre zwar gelegentlich angebracht, man wird ihn aber nie lesen können. Die Gerichte sagen klipp und klar: Werturteile im Arbeitszeugnis dürfen nicht die ungeschminkte Wahrheit enthalten, sondern müssen sich "an den allgemein üblichen Maßstäben" orientieren.

Personalchefs haben natürlich ihre Tricks, wie sie trotzdem ihre Botschaften über Fleiß, Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit eines Arbeitnehmers in dem Zeugnis zur Sprache bringen. Zum einen gibt es ganz offizielle Abstufungen, die man in Fachbüchern nachlesen kann. Zum anderen existiert angeblich auch eine Art Geheimsprache, mit der besonders heikle Aspekte benannt werden.

Um bei dem Einstiegsbeispiel zu bleiben: Wie würde man es Herrn Müller durch die Blume sagen, daß er die meiste Zeit auf der faulen Haut lag? "Er hat sich bemüht, der geforderten Einsatzbereitschaft zu entsprechen", könnte es heißen. Alleine das Wort "bemühen" würde bei einem fachkundigen Leser des Zeugnisses alle Alarmglocken läuten lassen. Das bedeutet nämlich, der Betroffene ist über das Versuchsstadium nicht hinausgekommen.

Fast wie Schulnoten

In aller Regel gibt es eine Abstufung, den Schulnoten eins bis sechs entsprechend. Nimmt man den Aspekt "Belastbarkeit", dann sieht das ungefähr so aus: Note eins = "Auch stärkstem Arbeitsanfall ist Herr Müller jederzeit gewachsen", Note zwei = "Auch starkem Arbeitsanfall ist er jederzeit gewachsen", Note drei = "Er ist starkem Arbeitsanfall gewachsen", Note vier = "Er ist starkem Arbeitsanfall im wesentlichen gewachsen", Note fünf = "Dem üblichen Arbeitsanfall ist Herr Müller im wesentlichen gewachsen", Note sechs = "Er war stets bestrebt, den üblichen Arbeitsanfall zu bewältigen".

Schweigen kann alles sagen

Ähnliches läßt sich auf alle in Frage kommenden Leistungskriterien umsetzen, also auf Fachwissen, Auffassungsgabe, Eigeninitiative, Urteilsfähigkeit und Zuverlässigkeit. Von oben nach unten fällt jeweils ein lobendes Wörtchen wie "jederzeit" oder "optimal" weg. Das nennt man dann "beredtes Schweigen".

Das Problem an der Sache ist, daß bei weitem nicht alle Personalchefs einer Meinung sind. Der eine hält es für selbstverständlich, daß im Zeugnis etwas über Ehrlichkeit und Pünktlichkeit des Arbeitnehmers bemerkt werden muß. Der andere sieht gerade in der Betonung dieser beiden Tugenden eine bewußte Abwertung. Auch die Berufsgruppe ist in diesem Zusammenhang wichtig. Nach Auffassung vieler Juristen hat etwa ein Kassierer Anspruch darauf, daß seine Ehrlichkeit ausdrücklich erwähnt wird.

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Eine gute Einführung in das Thema liefern zwei allgemeinverständlich geschriebene Bücher, aus denen auch die zitierten Beispiele stammen: Georg R. Schulz, Alles über Arbeitszeugnisse, Beck-Rechtsberater im dtv, 157 Seiten, 9,90 Mark. Günter Huber, Das Arbeitszeugnis in Recht und Praxis, Haufe Verlag, 194 Seiten, 39,80 Mark.

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© Nürnberger Nachrichten 1996