Ans Kreuz mit
der Wahrheit!

Brauchen wir wirklich noch ein Werk über Jesus? Heute zimmert sich doch schon jeder Fernsehmoderator sein eigenes Christusbild zurecht und macht ein Buch daraus!

Dieses hier fällt aus dem Rahmen der Betulichkeit. Sein Autor ist der mißverstandenste Mann des Jahrhunderts: Wilhelm Reich. Er ist der einzige, dessen Bücher zweimal verbrannt wurden: von den Nazis und von den US-Behörden.

Reich, der am 24. März hundert Jahre alt geworden wäre, war ein bekannter Agitator der zwanziger Jahre. Der Psychotherapeut wollte die Lehren von Freud und Marx in einer politischen Bewegung vereinen. Das Ziel war nicht mehr und nicht weniger als die „sexuelle Revolution“. Konkret bedeutete das, unter anderem, daß Jugendliche umfassend aufgeklärt werden sollten, und daß sie freien Zugang zu Verhütungsmitteln haben sollten. Heute ist das selbstverständlich. Damals war es der Untergang des Abendlandes.

Die Kommunisten verstießen Reich aus ihrer Partei, die Psychoanalytiker aus ihrem Verein. Er ging nach Norwegen, später nach USA. Seine Forschungen dort katapultierten ihn endgültig ins Niemandsland. Reich entdeckte eine Ur-Energie, die er Orgon nannte.

Diese Lebenskraft aber „gibt es gar nicht“, so zumindest lautet die herrschende Meinung der Wissenschaft. Und diese Meinung ist nicht nur im übertragenen Sinne „herrschend“, sie beherrscht die Gesellschaft, den Staat, die Behörden: Reich kommt als Betrüger ins Gefängnis, wo er 1954 stirbt.

Die Wissenschaft hat ihre materialistische Doktrin, wonach nur die bekannten, die gewöhnlichen physikalischen und chemischen Kräfte im Körper wirken, seither nicht geändert. Es stellt sich aber heute deutlich lauter als damals die Frage, wie lange sie sie noch aufrechterhalten kann. Es hat ein Wertewandel stattgefunden. Nach heutiger Auffassung hat Reich, dessen damals „verrücktestes“ Experiment darin bestand, daß er Regen machen konnte, und zwar auf Erfolgshonorar-Basis, schamanistisches Grundwissen wiederentdeckt.

Vielleicht hat er selbst das geahnt. Denn es ist schon merkwürdig, daß ein erklärter Atheist sich ausgerechnet des Christus-Mythos annimmt, und das auch noch auf der Basis eines wortwörtlichen Bibelverständnisses. Für Reich ist Jesus „der erste Therapeut“, so zumindest versteht er das Heilen durch Handauflegen. Sein Christusbild ist sehr eigenwillig – wenngleich auch sehr einleuchtend! – und sehr persönlich. Andererseits ist der Jesus des Wilhelm Reich auch der Jesus eines konservativen Katholizismus kleinster Kreise! Reich nimmt die Bibel wörtlich. Mit dem wachsweichen Jesusbild „Neuer Männer“ à la Alt hat das nichts zu tun.

„Er sagte die Wahrheit, wie er sie fühlte und kannte, aber er wußte, daß ihn niemand wirklich verstand. Er liebte die Menschen seines Volkes, fühlte sich aber auch durch sie in einer Lebensäußerung gefangen, die nicht die seine war.“ Für Reich verkörpert Jesus das Leben selbst. Genauer gesagt ist Jesus im direkten Kontakt mit dem Leben, er läßt es durch sich hindurchströmen – das ist das Ziel der Reichschen Therapien.

Jesus ist ein einziger unter Millionen. Alle anderen sind „emotional verpestet“. Daher gilt für Reich: „Christus wäre sicherlich zu jeder Zeit und in jeder Kultur ermordet worden.“

Der Platz Gottes ist in jedem Menschen, nirgendwo sonst. Doch der Mensch will das nicht spüren. Er hat andere Ziele: materielle. Für die hat er sich nicht entschieden, sie wurden ihm eingeimpft. Der Mensch, der in Lüge lebt, kennt die Wahrheit, doch er hat sich gegen sie gepanzert.

Diese Panzerung droht aufzubrechen, wenn der Mensch Christus hört – denn der verkörpert nicht die papierne, trockene Wahrheit des Verstandes, sondern die überfließende Wahrheit des Gefühls, die Wahrheit des „Ich aber sage euch“. Durch sie jedoch fühlt sich der Mensch so bedroht, daß er sie zum Schweigen bringen muß.

Dürfen wir Reich, der für seine Ideen ins Gefängnis ging, ja, in letzte Konsequenz für sie starb, vorwerfen, er habe sich allzusehr mit Jesus identifiziert? Er sehe in diesem doch wohl nicht Gottes Sohn, sondern den idealen Therapeuten (der hielt, was Freud nur versprach)? Ist Jesus menschgewordene Ur-Energie? Der Orgon-Sohn?

Gerade dann, wenn Jesus gar nicht gelebt haben sollte, sind die Ideen, die Reich beim Wort nimmt, erst so richtig interessant, weil wir uns fragen müssen, woher sie wohl kommen . . . Warum entstand ein Mythos vom wirklichen Menschen? Sind wir etwa keine?

Am Schluß geht es nicht mehr um Reich oder Jesus. Die letzten Fragen kann jeder nur für sich selbst beantworten. Dafür, daß diese Fragen überhaupt erst einmal gestellt werden, und zwar radikal genug, sorgt ein Buch wie dieses.

Magnus Zawodsky

Wilhelm Reich: Der Christusmord. 2001-Verlag 1997, 380 S., DM 40,–.

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