In Galicien darf der Urlauber Individualist sein

Stille zwischen grünen Hügeln

Präzis zu Sonnenuntergang sollte man in Santiago de Compostela ankommen, möglichst auf der Straße C 545, die direkt hineinführt ins "spanische Jerusalem". Da steht die Kathedrale feuergelb vor dem blassen Himmel. Ihre schlanken Türme scheinen von innen heraus zu glühen, kommen näher, wachsen ins Riesenhafte. Flammenstösse aus Stein.

Und Zeit, viel Zeit sollte man sich nehmen für das merkwürdige Stück Spanien, das rund um Santiago liegt. Denn dieses Galicien _ so heißt der Puffer zwischen Portugal und Asturien _ ist eine Miniwelt für sich. Steife Brisen und laue Lüftchen, ernste Bergnester und weiße Fischerdörfer, Kiefern und Palmen, Auerhähne und Austern sind auf engstem Raum zu erleben. Als Draufgabe genießt man die raffinierteste Küche und die spritzigsten Weißweine der Iberischen Halbinsel.

Kein Flamenco, keine Paella

Zum gängigen Spanien-Klischee, das von Flamenco über Paella zu Stierkampf reicht, paßt Galicien denkbar schlecht. Nicht einmal in Ansätzen entwickelt es Ähnlichkeiten mit den Bestsellergegenden Costa Brava und Costa del Sol.
Anders ist zunächst das Klima, nicht stur trocken und heiß, sondern mild, diesig, ozeanisch-feucht, immer für Überraschungen gut. Als unwiderlegbar erweist sich daher die hartnäckige Behauptung, an wirklich klaren Tagen könne man vom Westkap Finisterre aus, wo die alten Römer dereinst das Ende der Welt vermuteten, bis nach Amerika schauen. Wirklich klare Tage hat in Galicien noch niemand erlebt. Anders ist die Landschaft. Nichts von greller Helle und brauner Dürre, fast nichts von Betongrau. Die wohltuend sanften Hügel, die das Kantabrische Gebirge mit dem Atlantik verbinden, spielen die gesamte Grün-Skala durch: Schilfgrün, Citrusgrün, Kastaniengrün, Akaziengrün, Eichengrün, Weinlaubgrün, Eukalyptusgrün.

Auf den Hängen explodiert der Ginster. Die winzigen Hausgärten quellen über vor Rosen, Hortensienbüschen, Kohlköpfen. Die Wälder stehen mit allen Beinen in Farn und Heidekraut. Den eigentlichen Clou freilich steuern die sogenannten Rias bei, tief ins Land leckende Meereszungen. Automatisch denkt man an Fjorde _ und irrt. Die richtige Ria nämlich bedarf unbedingt eines Rio. Sie entpuppt sich als irgendwann in der Eiszeit abgesunkene Flußmündung, in der sich heute Süß- und Salzwasser mischen. In ihrer Gesamtheit bilden die vielen Rias Gallegas das spezifisch galicische Naturwunder eines 1300 Kilometer langen, total zerfransten Küstenstreifens mit endlosen Buchten, Winkeln, Felsen, Dünen, ufernahen Inseln und wohlgezählten 772 opelweißen Sandstränden. Anders sind die knapp drei Millionen Galicianer, die sich stolz "Gallegos" nennen. Ihre Vorfahren waren Kelten unbekannten Ursprungs, die um 600 vor Christus einsickerten. Ihre Sprache klingt eher portugiesisch als spanisch.

Fiestas müssen sein

Galicien hat die kleinsten Dörfer und die kleinsten Felder ganz Spaniens. Ein Pfarrer, ein Mesner und fünf Frauen, deren Männern auf Fischkuttern übers Meer fahren und nur besuchsweise heimkehren, sind nicht selten eine eigenständige Ortschaft, die ihrerseits wiederum einen eigenständigen Festtag benötigt. Fiesta muß sein, Dudelsack muß sein. Tag für Tag geht es irgendwo hoch her, ob zu Ehren des Kirchenheiligen, einer beliebten Hexe, der Kirschenernte oder des Tintenfisches macht im Grund wenig Unterschied. Glaube und Aberglaube, Hostie und Magie koexistieren problemlos. Anders, ganz anders schließlich ist das touristische Angebot. Der vielzitierte, oft schmeichlerisch gelobte "mündige Gast", in Galicien wird er echt gefordert. Kein Animateur nimmt ihn an der Hand. Kein lokales Reisebüro konzentriert sich primär auf Ausländer.

Baden als tagesfüllende Hauptbeschäftigung entfällt, da der Atlantik allenfalls in Glücksjahren 18 oder 19 Grad schafft. Um so besser dran ist der umfassend neugierige Autoflaneur. Ihm öffnet sich in Galicien eines der letzten europäischen Reservate für anspruchsvolle Individualreisende.

Reiten oder Rafting

Segeln, Fischen, Reiten, Rafting, Wasserski, Windsurfing, alles ist möglich. Ebenso Römerbrücken suchen, billige Schuhe einkaufen, durch Lagunen tuckern, einem Fluß bis zur Quelle folgen, einen Gipfel der Kantabrischen Kordilleren ersteigen, eine Klostertour absolvieren. Auch ganz Spezielles steht zu Gebote. Zum Beispiel die Playa América in Baiona, wo am 10. März 1493 die Columbus-Fregatte "Pinta" landete und Kunde von der Entdeckung Amerikas brachte. Oder tausende schwimmende Miesmuschel-Plattformen. Oder die Costa de la Muerte (Todesküste), zu deren Füßen versunkene Schiffe aller Zeiten am Meeresgrund liegen. Oder die "Hórreos", wahrhaft seltsame Getreidespeicher, die an gewaltige Sarkophage erinnern. Die fotogensten Exemplare finden sich in Carnota, Lira und Combarro.

Der Höhepunkt ist natürlich Santiago de Compostela, Herzstück und quirliges Universitätszentrum Galiciens, heilige Stadt des Mittelalters, Endziel des berühmtesten Pilgerweges, der zugleich Wirtschaftsader und Kulturstraße war. Enge Uraltgassen münden in noch engere. 46 denkmalgeschützte Klöster, Paläste, Kollegien spielen Freilichtmuseum. Dann endlich die hochgetürmte Granitkathedrale, zu der schier alle Rias hinaufführen. Kämpferischer Glaube hat sie über der Grabstätte des Apostels Jakobus geschaffen, ein nie abgerissener Strom von Betern hat sie lebendig erhalten. Ihre Botschaft läßt sich zwar nicht fotografieren, aber ohne weiteres mitnehmen, als Andenken für die Seele.

Inge Santner

Weitere Auskunft:
Spanisches Fremdenverkehrsamt, Postfach 151940, 80051 München, Tel. (089) 5389075

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